Wie COVID-19 die Marktforschung verändert

Wie Covid die Marktforschung verändert

Internationale seelische Disruption – 6 Maßnahmen um dem eigenen Pre-COVID-Mindset zu entfliehen

Die COVID-19-Pandemie bietet trotz aller Einschränkungen Chancen für Marken – und auch für die Marktforschungsbranche. Rheingold-Forscherin und Leiterin der US Dependance des Kölner Marktforschungsinstituts Patricia Sauerbrey Colton zeigt, wie achtsame Marktforschung mit Corona-sensibilisierten Verbraucher*innen verborgene Erkenntnisse aufdecken kann.

„Social Distancing“ hat uns an unsere psychischen Grenzen gebracht und extremisiert, was gerade gut und was eher problematisch läuft. Ganz gleich, ob der Alltagsstress durch den Lockdown eher abgemildert wurde oder ob wir mit Überforderung durch Home-Office und Kinderbetreuung gekämpft haben – innerlich sind wir aus unseren gewohnten Bahnen geraten, seelisch durchgerüttelt worden und entwickeln nun neue Strategien, unseren Alltag zu bewältigen. In den USA kommen die erheblichen sozialen und politischen Unruhen dazu.

Diese Verfasstheit ist für viele schwer zu ertragen, für uns qualitative Marktforscher von rheingold aber ein Rohdiamant. Denn da unsere Seele nicht zwischen Alltags- und Forschungskontext differenziert, haben wir nun Zugang zu sensibilisierten Verbraucherseelen. Das veränderte Lebenssetting simuliert, was wir im Researchsetting so oft herzustellen versuchen: ein Spielen mit Szenarien, ein Hinterfragen des eigenen Standpunkts, ein Zulassen von und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Zerrissenheit im Erleben der Dinge. Und diese Probandenverfassung ist auch Monate nach dem Lockdown-Schock noch deutlich zu spüren – und für unsere Arbeit zu nutzen.

Die Pandemie verstärkt vorhandene Probleme

Das Ausmaß der seelischen Disruption lässt sich an meiner Arbeit für das rheingold Institut in den USA sehr gut verdeutlichen. Hier wütet Covid in einem Land, das schon zuvor gespalten war und mit grundlegenden Systemproblemen kämpft. Die „Black Lives Matter“ Bewegung in den USA macht beispielsweise generationsübergreifender unterdrückter Wut Luft, die unter Covid-Einschränkungen noch erstickender wurde. Benachteiligungen auf Grundlage von Herkunft, Rassenzugehörigkeit, sozioökonomischem Status sind traurige Realität und verschärfen sich zusätzlich, wenn Covid den eigenen physischen und psychischen Wirkradius freiheitsliebender Menschen einschnürt.

Eine meiner Interviewpartnerinnen brachte es folgendermaßen auf den Punkt:

„I don’t know what to fight first: the virus, white supremacy or this president (…) And all of this while worrying about my job, homeschooling a 6 year old and figuring out how I can keep my dad out of a nursery home. (…) It’s just too much. I am mourning the life I can’t have right now.“

Achtsamkeit ist wichtiger denn je

Corona hat die zu erforschenden Verbraucher, aber auch uns Marktforscher selbst zu einem Crashkurs Achtsamkeit gezwungen: Wir alle nehmen unsere Verfasstheit bewusster wahr und sind gefordert, einen neuen Angang zu finden.

Auch wenn sich die seelische Disruption international in verschiedenen Symptomen ausdrückt, so beobachten wir in unseren Studien länderübergreifend die psychische Erschütterung und die damit verbundene stärkere (Selbst)reflektion und Suche nach neuen Wegen. Während wir uns als qualitative Marktforscher unter „normalen“ Bedingungen Stück für Stück hinter die Fassade fragen müssen, sehen wir nun ungewöhnliche Einblicke und erleben besonders tiefe, erkenntnisreiche und in die Zukunft blickende Gespräche.

Gab es zuvor routinierte Nutzungsmuster von Marken und Produkten, bezeugen nun Coronaspeck, Versandkartons und neue Heimoasen, welche Marken und Produkte uns wie und wann mit Trost, Abwehrkraft oder Besänftigung wieder aufzubauen versuchen. Eltern stellen präventiv sicher, dass der Süßigkeitenvorrat aufgefüllt ist, um isolierte Kinderseelen zu beruhigen. Bingewatching hilft, die Quarantäne zu überstehen und Wut erhält Abfuhr in neuen Fernfitnessangeboten.

Kein “Back to Normal”

Zwar ist die Sensibilisierung für das eigene Empfinden aus Covid geboren, es zeigen sich aber auch Anzeichen, dass es auch langfristig kein „Back to Normal“ geben wird. Die bewusst gewordene eigene Verletzlichkeit lässt sich nicht einfach abschütteln, sondern wird uns mindestens unterschwellig begleiten. Verletzlich sein, sich der eigenen Endlichkeit bewusst sein, bedeutet im Grunde den Zugang zu Schattenseiten oder Bedrohungen aufrecht zu erhalten und zuzulassen, um nicht noch einmal mit einer solchen Wucht aus der Bahn geworfen zu werden.

Eine solche Seelenlage erfordert aber gleichzeitig auch entsprechend achtsame Moderation. Als Marktforscher sind wir gefragt, ein Researchsetting zu schaffen, das diesen besonders verletzlichen, reflektierten und offeneren Seelen nicht nur Ausdrucksraum bietet, sondern gleichzeitig hilft, dieses Mindset auf das Studienziel zu übertragen. Dabei können die folgende Punkte Anregung bieten, dem eigenen pre-Corona Mindset zu entfliehen:

1. Geduld: Entwicklung braucht Zeit. Die innere Unruhe braucht Raum, um sich nicht am Untersuchungsgegenstand zu entladen und Antworten brauchen Gelegenheit zu reifen, hinterfragt und umgedacht zu werden. Während die erste Antwort sich vielleicht noch an alten Mustern orientiert, lässt sich die zweite oder dritte Covid-erprobt färben: was ist um- oder weggebrochen? Was war gesetzt, das jetzt umdefiniert werden darf? Womit hat man sich selbst überrascht? Mut zum Pausieren, Reflektieren, In-sich-gehen.

2. Brücken bauen: Das Marktforschungssetting mag alte Schemata wachrufen, wie ein Meeting, ein Gespräch, ein Interview. Nun gilt es proaktiv die Covid-Achtsamkeit am Leben zu erhalten: was hat man in dieser Zeit über sich gelernt, das die Bewertung des Untersuchungsgegenstandes ggf. lenkt, schärft oder gar ändert? Wie spiegeln sich mögliche Covid-Bedrohungen, -Entlastungen, -Veränderungen im Untersuchungsgegenstand wider?
Eine Probandin konnte sich zum Beispiel ihren häufigeren Süßigkeitenverzehr im Lockdown leichter verzeihen. Ihr wurde bewusst, dass sie sich nun wie auch sonst oft damit tröstete, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass ihr schlechtes Gewissen sie weniger plagte. Die erschwerten Covid-Bedingungen legitimierten ihren erhöhten Süßigkeitenkonsum als Trostpflaster.

3. Bewusst machen: Spontane Empfindungen auserzählen und beschreiben lassen, den momentanen Zustand wertschätzen und genau beobachten (lassen). Ermunterung dazu, Gedanken und Gefühle sprachlich begleitet vorbeiziehen zu lassen. Innehalten und Zusammenhänge mit dem Untersuchungsgegenstand erklären lassen.

4. Widerspruch nähren: Covid-Erfahrungen als Befreiung von alten Strukturen begreifen und Inkonsistenzen, Zerrissenheit und Widerspruch zulassen und ergründen.
Ein Proband setzte zum Beispiel den Widerspruch, dass er die Maskenpflicht je nach Freundeskreis mehr oder weniger genau nimmt mit einem kürzlich gekauften Tablet in Bezug: Während er sich ertappte, dass seine Herangehensweise bei der Maskenpflicht nicht wirklich wissenschaftlich war, stellte er dies auch bei seinem Tabletkauf fest. Es war auch eine Bauchentscheidung und es ließ sich herausfinden, welche Eigenschaften des Tablets, für das er sich entschied, dazu beitrugen, dass er sich mit der Entscheidung sicher fühlte. Seine Argumentation wurde emotional und die technischen Fakten gerieten in den Hintergrund.

5. Sinn erfragen und Sinnzusammenhänge herstellen: Eruieren, wie sich Sinn stiften lässt. Welche emotionale und rationale Funktion gesteht man dem Untersuchungsgegenstand zu? Inwiefern ist dies kongruent mit den eigenen Sinnstiftungsprinzipien? Was erleichtert, was engt ein?
Covid hat uns vor Augen geführt, inwiefern wir alle zum Gelingen des Ganzen beitragen. In unseren Studien zeigt sich das durch ein erhöhtes Nachhaltigkeitsbewusstsein. Die einst stärker verdeckten Kehrseiten von Produkten rücken in den Vordergrund, z.B. Produktionsbedingungen, Fairness im Umgang mit Angestellten oder der Produktlebenszyklus von der Fertigung bis zum Recycling. Die Schattenseiten lassen sich nun leichter ausleuchten mit Probanden, die sich nun als bedeutenderes Rad im Getriebe befreien.

6. Nach vorne schauen: Covid-bedingte (neue) Wünsche, Ziele, Ängste und Befürchtungen auf den Untersuchungsgegenstand beziehen lassen und Szenarien entwickeln. Die oft so leidige Frage nach einer Marke in fünf Jahren wird plötzlich systemrelevant für Menschen, die sich genau diese Frage gerade für ihr Leben stellen.

Vor Covid haben wir uns oft der Zuspitzung als Mittel zur Freilegung tieferer Erkenntnisse bedient. Wir haben Aussagen in Frage gestellt, sie manchmal verschärft oder Probanden mit gegenteiligen Perspektiven konfrontiert. Covid ähnelt in Großem dem, was unser Werkzeug der Zuspitzung im Kleinen auslösen konnte – mit dem Unterschied, dass wir uns auch noch längerfristig, stark kulturell geprägt und tiefer erschüttert von Covid provoziert fühlen werden.

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