Angst vor der Zeitumstellung

Angst vor der Zeitumstellung

Die jährliche Zeitumstellung zurücknehmen, verheißt unbewusst, die globale Zeitenumstellung zu stoppen.

Das Ergebnis der Zeitumstellungsumfrage hätte mit dem Gefühl der Bürger zu tun, dass die Welt aus den Fugen sei, sagte Psychologe Stephan Grünewald im Deutschlandfunk. Gerade in Deutschland würde man am Liebsten die Zeit anhalten, um in einen Zustand permanenter Gegenwart einsteigen zu können, in dem sich nichts verändert.

Das Interview mit Stephan Grünewald erschien am 1. September 2018 beim Deutschlandfunk.

Auffällig am Ergebnis dieser Umfrage, die Beteiligung in Deutschland war mit  drei Millionen Voten besonders groß und eine überwältigende Mehrheit hat dafür gestimmt, die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit abzuschaffen. Aber warum? Ich hatte Gelegenheit, darüber mit dem Psychologen und Psychotherapeuten Stephan Grünewald zu sprechen, er ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Rheingold Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung.

Ja, das Thema ist ja zweimal im Jahr sowieso aufgeploppt und hat dann die Gemüter erhitzt, nämlich wenn auf Sommerzeit beziehungsweise auf Winterzeit umgestellt wurde und die Menschen merken, dass ihr gewohnter Alltag wieder durcheinanderpurzelt. Dadurch, dass das natürlich jetzt europaweit zu einer offenen Frage wurde, hat das natürlich noch mal zu einer zusätzlichen Erhitzung geführt. Und psychologisch interessant ist, wenn man den Experten folgt, egal ob man auf den Biorhythmus achtet oder auf die Energiebilanz, es gibt für die eine und für die andere Seite Argumente, aber keine zwingenden Argumente. Dennoch ist ja das Mehrheitsvotum gerade in Deutschland klar für die Abschaffung. Und ich denke, das hat Gründe, die nicht in der Zeitumstellung an sich begründet sind.

Da kommen wir gleich auf jeden Fall noch drauf zu sprechen, Herr Grünewald, erst noch mal zurück zu dem Ergebnis. Wenn ich mir zum Beispiel die Reaktion der Kanzlerin anschaue, Angela Merkel, die ist noch zu Besuch in Nigeria, wird auf dieses Ergebnis oder auf die Ankündigung, dass das jetzt geändert werden soll, und sagt, sie unterstützt das und dann fügt sie hinzu – und das muss man ja als Scherz betrachten –, mit Blick auf ihren Gastgeber in Nigeria weiß sie gar nicht, ob der weiß, welche zentralen Probleme die Menschen in Europa so haben. Also können wir als Erstes mal festhalten, so arg wichtig, eine Frage von Leben und Tod jedenfalls der europäischen Politik, ist das nicht.

Gründe für das Ergebnis

Nein, das sind, sagen wir mal, so die Alltagsfragen, die uns bewegen, aber es sind nicht Fragen nach Krieg und Frieden, nach hungern oder nicht hungern, nach Korruption in der Gesellschaft. Es ist ein ganz anderes Level, das hier tangiert wird. Es zeigt natürlich auch, ich denke, da merkt man so ein bisschen auch den spöttischen Blick der Kanzlerin, die das Gefühl hat, dass die Deutschen ja doch sehr saturiert und zum Teil verwöhnt sind.

Dann lassen Sie uns über die Gründe für dieses Ergebnis sprechen. Sie haben es ja selber angesprochen, ich habe mir vorhin noch mal eine Studie aus dem Bundestag von vor zwei Jahren angesehen und da kommt ja unter dem Strich glasklar raus, dass in allen Punkten, die relevant sind für die Menschen – also die Wirtschaftsleistung, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder auch der Energieverbrauch, das war ja ursprünglich mal ein wichtiger Punkt bei der Einführung –, in allen diesen Punkten kann man weder sagen, dass es besonders positive, noch dass es besonders negative Effekte hat. Kann man das sozusagen erst mal festhalten, es ist eine Frage, die mit der Sache selber gar nicht so viel zu tun hat.

Es ist, sagen wir mal, doch eine sehr emotional aufgewühlte Entscheidung, die da getroffen wird. Und ich glaube, die Auflösung steckt schon im Begriff der Zeitumstellung. Wir reden ja über eine kleine Zeitumstellung, die zweimal im Jahr passiert, was die Menschen aber seit Jahren viel mehr bewegt unbewusst, ist die große Zeitumstellung, die Zeitenwende, in der wir gerade leben. Das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen ist, dass wir in einer Welt leben, die so nicht mehr verstehbar ist und die zunehmend beunruhigt. Und es gibt im Moment viele Tendenzen,  gerade weil es Deutschland gut geht, weil wir eines der letzten sicheren Auenländer der Welt sind, dass wir am Liebsten die Zeit anhalten würden, in einen Zustand permanenter Gegenwart einsteigen könnten, weil jede Änderung, jede Zukunftsperspektive eher verheißt, dass die tollen und unbesorgten Jahren vorbei sind. Von daher konstatieren wir in unseren Untersuchungen eine unbewusste Angst vor der Zeitumstellung im großen, im globalen Sinne. Vor den Zeiten, wo auch immer mehr Fremde ins Land kommen, wo die Gesellschaft sich digitalisiert, wo die Globalisierung mit unübersehbaren Folgen die Menschen beunruhigt, und die große Sehnsucht ist, kann nicht alles so bleiben, wie es ist.

Und wenn schon nicht alles so bleiben kann, wie es ist, können wir dann ein Stück weit wieder zurückgewinnen, was wir mal hatten, nämlich eine einheitliche Zeit, man muss sich nicht zweimal im Jahr umstellen, ist es das, was Sie meinen?

Genau! Und dieses Zurückgewinnen, das ist ja noch eine Zeit, wo die Menschen das Gefühl haben, da war die Welt noch in Ordnung, das ist mit Jugend, mit Kindheitserinnerungen verbunden. Und die Sehnsucht ist, können wir nicht, indem wir die Zeitumstellung, diese jährliche Zeitumstellung zurücknehmen, die große Zeitumstellung, die uns jetzt ereilt, können wir die nicht aufheben.

„Die großen Unterscheidungen haben sich aufgelöst“

Sie haben ja gesagt, dass Sie das als einen größeren Trend betrachten, und haben das auch gerade beschrieben. Sie haben als Stichworte Digitalisierung genannt, Migration, Veränderung von größeren Zusammenhängen. Wo genau beobachten Sie das noch oder gibt es andere Phänomene, wo Sie genau diese gleiche Reaktion erkennen?

Die gleiche Reaktion erleben wir so in dem Verlust eines, sagen wir mal, seelischen Kompass, auch wenn wir uns mit Wahlkämpfen, mit den Parteien beschäftigen: So die großen Unterscheidungen, die klaren Programmatiken, die Glaubensgewissheiten haben sich aufgelöst. Und das macht die Welt so unüberschaubar und das steigert natürlich die Sehnsucht nach der Heimat. Die Heimat ist so Zeit, in der wir uns als Kinder aufgehoben fühlten, dass wir jetzt ein Heimatministerium haben passt eigentlich wunderbar zu der Tatsache, dass wir jetzt quasi mit der Rücknahme der Zeitumstellung in die alten Zeiten zurückgelangen wollen.

Aber wenn wir schon auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft sind, in die digitale Gesellschaft, was immer die noch bringen mag an Veränderung, können wir uns denn diese Haltung, können wir uns diese Skepsis und diese Sehnsucht nach dem Vertrauten, Alten, Kuscheligen, sage ich mal, können wir uns das leisten?

Ja, zumindest die Sehnsucht können wir uns leisten, die ist ja den Leuten quasi nicht wegnehmbar. Aber gerade das, was wir verspüren, die Digitalisierung führt ja zu einer Zeitverflüssigung. Es gibt keine festen Arbeitszeiten mehr, man ist rundum erreichbar, die Kunden, die Vorgesetzten erwarten, dass innerhalb von wenigen Minuten auf eine Mail eine Antwort erfolgt. Das heißt, diese ganze Verflüssigung, die wir erleben, die führt natürlich wieder zu der gesteigerten Sehnsucht, tauchen wir in einen ehernen Rhythmus ein, der ungemein beständig ist.

Was ich meinte war, kann denn unsere Reaktion ein erfolgversprechender Umgang mit diesen Veränderungen sein, wenn wir sie ablehnen oder in Teilen zurückweisen, auch in so einem kleinen Punkt wie der Zeitumstellung zweimal im Jahr.

Wenn es uns gelingt, ein Standbein zu etablieren, dass da heißt, wir haben eine Überschaubarkeit, wir haben eine feste Rhythmik, gleichzeitig aber im Grunde genommen dieses Standbein nutzen, um ein Spielbein zu schwingen, das uns zukunftsfreudig macht, das uns experimentierfreudig macht, das uns weiter weltoffen macht, das bereit ist, die Zukunft nicht nur als zerstörerisch, sondern auch als Chance zu begreifen, dann kann ich das bejahen.

„Nicht nur hemdsärmelig, sondern auch vernünftig“

Also man kann beides versuchen: Sozusagen das Heimatliche zu suchen und das Weltoffene?

Problematisch ist, wenn man sich in der Heimat abschottet, wenn man nur noch auf die festen Rhythmen setzt, wenn man permanent sozusagen Gegenwart einzufrieren sucht, dann ist man natürlich nicht mehr veränderungsfähig. Das große Problem, das wir als Psychologen natürlich erleben, die Veränderungsbereitschaft wächst in dem Maße, wo man das Gefühl hat, es ist notwendig. Das heißt, die Not führt zu einer Wendigkeit. Wir sind aber im Vergleich zu Afrika und zu anderen Ländern immer noch eine Insel des Wohlstands, uns geht es immer noch – relativ gesehen – ungemein gut und das erschwert es natürlich, sich zu verändern und Dinge, nicht nur die Zeit, umzustellen.

Jetzt hat Jean-Claude Juncker, der EU-Kommissionspräsident, gesagt als seine Schlussfolgerung aus dieser Online-Umfrage, kurz auf den Punkt gebracht: Die Menschen wollen das, also machen wir das. Ist das sozusagen auch in dieser Hinsicht ein Zeichen aus Brüssel, wo es ja auch viel Skepsis, viele Vorbehalte gibt gegen die Bürokratie dort, gegen die langsamen Entscheidungswege und die mühselige Suche nach dem Kompromiss, dass man jetzt mal eher hemdsärmelig sagt, ihr wollt das so, also machen wir das.

Das ist ja nicht nur hemdsärmelig, sondern auch vernünftig. Wir haben ja eben gesehen, es gibt nicht die objektiven Vor- oder Nachteile für das eine oder andere. Dann kann man sich ja auch dem Willen der Mehrheit quasi fügen und braucht nicht an etwas festzuhalten, was wissenschaftlich gesehen keinen großen Sinn macht und was für die Menschen betrachtet eher ein Unding ist.

Also Europa auf einmal ganz bürgernah.

Da ist Europa bürgernah und, ich denke, das ist in dem Fall nicht populistisch. Wenn man jetzt Entscheidung wider besseren Wissens, wider andersartige Studien treffen würde, dann fände ich das bedenklich, da die Ausgangslage quasi vollkommen unentschieden ist, kann man sich sehr gut an dem Votum, an den Entscheidungen der Bürger orientieren.

Der Psychologe und Psychotherapeut Stephan Grünewald hier im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank dafür!

Ich habe zu danken!

Das Interview führte Jasper Barenberg.

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