Da ist immer ein Zweifeln

Seelenlage der Bundesrepublik

Die Bundesrepublik feiert 70. Geburtstag. Wie ist die Seelenlage des Jubilars? Der Psychologe Stephan Grünewald erkennt Ruhe und Gelassenheit – aber auch ein gefährliches Brodeln

Das Interview mit Stephan Grünewald erschien am 16. Mai 2019 bei Zeit Online.

Herr Grünewald, in der kommenden Woche wird die Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre alt. Sie erforschen in Ihrem Institut seit Jahren den Seelenzustand der Deutschen. Wenn die Bundesrepublik ein Mensch wäre und zu Ihnen käme, was wäre Ihr erster Eindruck?

Vordergründig: eine ruhige und gelassene Person. Wenn man aber näher hinguckt, bemerkt man eine sehr große innere Unruhe und Aufgewühltheit. Die artikuliert sich in einer inneren Zerrissenheit, einem schwelenden Misstrauen gegen die Eliten und in einer wachsenden Unduldsamkeit.

Wie erklären Sie diese Unruhe?

Die Bundesrepublik ist eigentlich eines der letzten Paradiese, eine Art wunderbares Auenland mit niedriger Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stabilität, guter Gesundheitsversorgung. Aber dieses Auenland ist bedroht durch viele Gefahren, ob das jetzt der Klimawandel ist, der Terrorismus, die Digitalisierung, die Globalisierung, die Migrationsfrage. Diese Gefahren werden wie in eine Bad Bank nach draußen verlagert, in das Grauenland. Diese Aufspaltung der Welt führt dazu, dass in der Zukunft nur noch das Hereinbrechen des Grauens gesehen wird und nicht die Chance zur Umgestaltung.

Die Wurzeln vieler psychischer Probleme reichen ja weit zurück, weshalb Psychologen gern in der Kindheit ihrer Klienten wühlen. Wie war die Kindheit der Bundesrepublik?

Die Gründerjahre nach dem Zusammenbruch waren Jahre, in denen einerseits eine ungeheure Depression auf dem Land lastete, aber gleichzeitig eine berauschende Befreiung da war. Frei von allen Regeln und Rollenmustern konnte man wieder neu anfangen. Daraus erwuchs ein großes Zutrauen in die eigene
Schaffenskraft. Die erste große Zäsur kam 1968, als das Verdrängte mit Wucht ins Bewusstsein gelangte: Erst jetzt setzte man sich wirklich mit den alten, teils nationalsozialistischen Strukturen auseinander. Im Alter von 19 Jahren ging es für die Bundesrepublik also um Emanzipation, Befreiung vom Diktat der Väter und eine Liberalisierung auf allen Ebenen.

Das typische Alter für eine Rebellion?

Ja. Aufbegehren ist gemeinhin Sache der Jungen. Diese quasipubertäre Bewegung hat die Republik stark geprägt, etwa durch die Frauen- oder die Umweltbewegung. Das hätte es ohne 68 wohl nicht gegeben.

In den folgenden Jahren entwickelte die Bundesrepublik sich zu einem ziemlich stabilen Erwachsenen: erfolgreich, strebsam, angepasst.

Das war eine Grundlinie bis weit in die Achtzigerjahre hinein, flankiert vom Systemwettstreit. Man schöpfte Selbstbewusstsein auch aus der Gewissheit, das bessere System als der Osten zu verkörpern.

Die DDR war ja eine Art verstoßener Zwilling der Bundesrepublik. Was bedeutet es eigentlich, wenn so ein enger Verwandter über Jahrzehnte praktisch abgespalten wird?

Im Fall der Bundesrepublik hat diese Spaltung letztlich auch stabilisierend gewirkt. An der DDR konnte man sehen, was passiert, wenn man sich einer Diktatur überlässt und das ganze Leben nach Parteidiktum
durchdekliniert. Dadurch ersterben die Lebendigkeit und die Kreativität. Von daher war die DDR für die Bundesrepublik auch immer eine Art negatives Identitätssurrogat: Das bin ich nicht, und so will ich nie sein.

Wie würden Sie die Identität der Bundesrepublik beschreiben?

Es ist keine in sich ruhende und verwurzelte Identität wie die Frankreichs mit der zentralistischen Genusskultur oder die der USA mit dem Amerikanischen Traum. Das bestimmende Momentum in Deutschland ist immer ein Zweifeln, eine rastlose Suche nach sich selbst. In der Bundesrepublik entwickelten sich zwei Formen des Umgangs mit dieser Unruhe. Zum einen hat man sie gebannt, indem man auf Bürokratie, Paragrafen, DIN-Normen setzte, auf formale Regeln also, an die sich alle zu halten haben. Zum anderen aber, und das hat viel zum Erfolgskurs der Republik beigetragen, hat das Land es geschafft, Unruhe in Schöpferkraft zu verwandeln, in Dichten und Querdenken, in Ingenieurskunst, Erfindungen und Patente. Diese schöpferische Seite war in der DDR stillgelegt worden.

Wie war es dann, als dieser ungleiche Zwilling mit Anfang 40 plötzlich vor der Tür stand?

Die Wiedervereinigung war erst mal etwas Rauschhaftes. Die Widersprüche des Lebens lösen sich förmlich auf, und alles scheint auf einmal möglich. Der Osten erlebte plötzlich Luxus, Reisefreiheit, Demokratie. Der Westen wiederum war in einer potenten Geberposition, wie der reiche Verwandte, der einladen konnte, der bewundert wurde und, wenn er dann in den Osten ging, direkt in die Chefrolle aufstieg. Es war also für beide Seiten zunächst eine Win-win-Situation.

Wann kippte es?

Als der Osten merkte, dass es im Grunde nicht um eine produktive Auseinandersetzung zweier Systeme ging, sondern dass ein System über das andere gestülpt wurde. Die Ostgeschichte, in der es ja auch soziale Errungenschaften und eine gewisse Alltagskunst gab, wurde gleichsam planiert. Dabei war vom Osten ja eine Art Revolution ausgegangen. Und nach 1989 hatte man es geschafft, den kompletten Zusammenbruch des eigenen Lebenssystems zu verkraften, was eine enorme Leistung war. Die ist vom Westen weder gesehen noch gewürdigt worden. Deshalb herrscht in vielen Teilen des Ostens bis heute das Gefühl, nicht genug wertgeschätzt zu werden.

Welche Auswirkungen hatte das Ende des Ost-West-Konflikts auf die Republik als Ganzes?

Es setzte eine subtile, aber folgenreiche Sinn-Revolution ein. Eine coole und spaßbewegte Welt ohne Ideologie und politische Programmatiken schien möglich. In den Neunzigerjahren wurde alles relativiert und ironisiert, es wurde bunter und beschwingter. Aber mit der Zeit ist die Republik durch die Entideologisierung in eine entfesselte Beliebigkeit und ungeheure Orientierungskrise geraten. Der innere Kompass ging verloren, und auch die alten äußeren Gewissheiten brachen weg. Die USA, der Onkel aus dem Westen, wachen nicht mehr über uns, die europäische Familie läuft Gefahr auseinander zudriften, China als konkurrierende Wirtschaftsmacht bedroht unseren Wohlstand.

Wie hat die Bundesrepublik auf diese Orientierungskrise reagiert?

Letztlich mit einer Art Regression. Man hat die politische Verantwortung an eine gute Mutter abgegeben, an Angela Merkel, die das Land seit über 13 Jahren führt. Ihre typische Handhaltung, die Raute, wirkt dabei wie ein Symbol der Abgrenzung des Auenlandes nach außen: Ich beschütze euch vor den Gefahren, hier drinnen seid ihr sicher. Das war der Pakt. Als dann 2015 so viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, als also sinnbildlich die Raute geöffnet wurde, wirkte das auf viele, als hätte die Mutter ihre eigenen Kinder verraten. So erklärt sich die Wut, die Merkel zum Teil entgegenschlug und letztlich das Ende ihrer Kanzlerschaft einläutete.

Was bedeutet es, wenn diese Mutter geht?

Das bietet die Chance zu neuer politischer Mündigkeit. Aber ebenso kann die innere Haltlosigkeit und Verlorenheit wieder stärker zutage treten. Sie befördert auch den Siegeszug der Fake- News: Die Lüge schustert die Welt viel einfacher zurecht, sie hat eine stärkere Orientierung gebende Kraft als die Wahrheit, die immer differenziert ist, komplex und schattiert. Wo aber der Gemeinsinn durch Lügen, Verschwörungstheorien oder private Heilsideen ersetzt wird, schwindet der Zusammenhalt. Die Gesellschaft zerfällt immer stärker in Gruppen, die ihre eigenen Werte und Überzeugungen für die einzig wahren halten: Ich bin richtig, du bist falsch. Es ist eine infantile Art der Auseinandersetzung.

Die Bundesrepublik ist also mit 70 Jahren zurück auf einer kindlichen Entwicklungsstufe?

Ihr steht jedenfalls eine zweite Reifeprüfung bevor. Ich nenne das die Zeit des Erwachens. Aus meiner Sicht sind zwei Szenarios möglich: Das eine ist das böse Erwachen. Es wäre im Grunde genommen der Rückfall in eine Altersradikalität, eine Rückkehr zum Totemismus. Wir suchen wieder eine starke Führungsfigur, die à la »America first« sagt: Wir sind der Nabel der Welt, wir geben unsere Zivilisation auf zugunsten einer Stammeskultur, in der die deutsche oder europäische Einheit in viele feindliche Stämme zerfällt, mit dem Versprechen aber, dass wir wieder machtvoll sind, dass wir durchregieren und
Riesenprojekte stemmen können. Ich sehe die Gefahr, dass die Bundesrepublik nach 70 Jahren wieder in so eine Art besessenen Fundamentalismus zurückkehrt, von dem sie nach 1945 weggekommen war.

Und das zweite Szenario?

Das wäre nicht die Altersradikalität, sondern die Altersweisheit. Das heißt auch, dass man zurückfindet
zu einer reifen Streitkultur: Man bezieht eine Position, ist aber bereit, mit Andersdenkenden eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe zu führen. Das ist anstrengend, eröffnet jedoch auch
einen gedanklichen Freiraum. Ohne den bleibt man im Altbackenen stecken. Ein Weiter-so kann es angesichts der globalen Verwerfungen aber nicht geben. Es braucht Zukunftsutopien.

Ist die Bundesrepublik jetzt mit 70 in ihrer bisher schwierigsten Phase?

Man ist immer geneigt, die aktuelle Phase als die schwierigste zu glorifizieren. Jetzt geht es um die
große Frage: Driftet die Bundesrepublik ab in einen radikalen Fundamentalismus? Oder schafft sie es, sich
über den produktiven Streit wieder neu zu erfinden?

Inwiefern haben die Deutschen die Entwicklungsgeschichte der Republik verinnerlicht?

Im Grunde beruht das, was ich über das Wesen der Bundesrepublik gesagt habe, ja auf Tiefeninterviews
mit vielen Einzelnen. Und da sehe ich die beschriebene Rastlosigkeit und Aufgewühltheit der Republik
schon in der Mehrheit der Deutschen gespiegelt. Natürlich wird man immer Menschen finden, die völlig in sich ruhen. Aber die meisten Deutschen sind tatsächlich von Unruhe getrieben. Die einen setzen sie um, indem sie ständig durch die Welt reisen, die Nächsten bannen sie, indem sie sich den Formalismen der Bürokratie verschreiben, wieder andere übersetzen die Unruhe in Größenwahn. Umso wichtiger ist es, die Unruhe in schöpferische Energie umzuwandeln, was den Deutschen ja auch immer wieder gelungen ist.

Und wie geht es den heutigen Jugendlichen, die in dieses Land hineinwachsen?

Für die Mehrheit dieser Jugendlichen fühlt es sich einerseits paradiesisch an, weil so viel möglich ist, gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Andererseits ist für die jungen Menschen aber auch der Fluch des Paradieses spürbar: Wenn so vieles bereitgestellt ist, Wohlstand und Erfolg bereits da sind, wird der Erwartungsdruck enorm hoch. Viele haben das Gefühl zu versagen, wenn sie nicht gerade eine Influencerin mit Hunderttausenden Followern werden oder ein Start-up-Millionär. Dieser Perfektionszwang lähmt.

Sehen Sie unter den Jungen dennoch Bewegungen, die Republik in Zukunft anders zu gestalten?

Durchaus, die aktuellen Schülerstreiks sind dafür ein Beispiel. Der Klimawandel wird eines der Megathemen dieser Generation. Hier merken junge Leute, dass sie aktiv werden müssen, weil die Alten sonst ihre Zukunft verraten. Im Moment laufen die »Fridays for Future« aus meiner Sicht noch viel zu brav
ab. Das fröhliche Einvernehmen von Schülern, Eltern und Lehrern schafft dann lediglich eine Betroffenheitssymbiose. Aber ich sehe auch das Potenzial, dass radikale Forderungen gestellt werden, dass ein Generationskonflikt entsteht, der am Bequemlichkeitskonsens nagt. Diesen polarisierenden Streit wird das Land brauchen, um voranzukommen.

Das Interview führte Merlind Theile.

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