Die psychologische Seite der Krisen

Krisen und ihre psychologischen Seiten

Im seelischen Balanceakt

Die von den sich überlagernden Krisen kräftig durchgerüttelte Bevölkerung ist von Verunsicherungen und Ängsten vor einer ungewissen Zukunft geplagt. Die Menschen bewegen sich zwischen Resignation, Trotz und Wut und sehnen sich zugleich nach einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft.

Dieser Beitrag erschien am 18. Januar 2023 bei Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte.

Seit dem Ausbruch von COVID-19 hat sich die Welt drastisch verändert. Die Coronakrise forderte den Menschen Außergewöhnliches ab. Alltägliche Selbstverständlichkeiten brachen weg und wir erlebten eine tiefgreifende Ohnmacht nicht nur dem Virus, sondern auch den massiven Einschränkungen und Veränderungen unseres Alltags gegenüber.

Noch bis kurz vor der Krise wähnten wir uns im Besitz unendlicher Optionen zur Gestaltung unseres Lebens. Die Pandemie bescherte uns dann aber eine Ohnmachtserfahrung, wie sie die meisten Menschen in Deutschland so noch nicht erlebt hatten. Die kränkende Beschneidung unserer Möglichkeiten wurde zu Beginn der Krise lediglich dadurch abgefedert, dass alle Menschen den gleichen Einschränkungen ausgesetzt waren. Dies führte zu Solidarisierungsbewegungen und Vergemeinschaftung in der Krise. Trotz Abstandsgebot fühlten wir uns einander nahe. Dies veränderte sich zunehmend und wich einer Polarisierung in der Bevölkerung.

Wenn wir im rheingold Institut in Tiefeninterviews über die Auswirkungen der Krisen sprechen, wird deutlich, wie schwierig die Anpassung an den neuen Alltag ist. Zusätzlich zur Coronapandemie führten ab Ende Februar 2022 der Ukrainekrieg und schon lange die Umwelt- und Energiekrise zu einer Zeitenwende, die nicht nur politisch, sondern vor allem auch persönlich als drastischer Einschnitt erlebt wurde und immer noch erlebt wird.

Nach gut zwei Jahren Pandemie klagten die Menschen in Deutschland Anfang 2022 über eine niedergedrückte Stimmung, fühlten sich in einer Art »Melancovid« gefangen und wagten sich nur ungern aus ihrem persönlichen Schneckenhaus heraus. Dies hält bis heute an. Die Welt in diesem Schneckenhaus ist zwar eng, aber immerhin wähnt man sich in der Überschaubarkeit sicher und bequem. Hingegen tobt draußen das Ungewisse, Überkomplexe und Unberechenbare und befeuert so den Rückzug.

Menschen lenken nach wie vor ihre Energie vermehrt ins Innere und reduzieren ihren Lebenskreis auf einen kleinen Radius, agieren weniger global, als eher ichbezogen und auf ihren unmittelbaren analog erlebbaren kleinen Kreis. Selbstbezüglich sich selbst der Nächste zu sein, schränkt nicht nur den Lebensradius, sondern auch die Solidarität ein. Das »Draußen« verliert zunehmend an Attraktivität und Bedeutung und ist doch elementar für die Entwicklung – jenseits aller Altersgrenzen.

Zugespitzt erlebten dies bereits die Heranwachsenden in der Coronakrise. Aufzuwachsen in der Pandemie wurde für sie zu einem »Heranwachsen im Treibhaus« unter kontrollierten Bedingungen, in denen notwendige Entwicklungsaufgaben nur schwer geleistet werden konnten. Sich auszuprobieren, mit der Welt, mit Fremden in einen Austausch zu kommen, über die Stränge zu schlagen – alles Notwendigkeiten für ein Heranwachsen – konnte in der Pandemie nur sehr bedingt gelebt werden.

Unterschiedliche seelische Belastungslogiken

Die derzeitige Krisenpermanenz übt eine ungeheure Wucht auf die Menschen aus. Die einzelnen Krisen haben für sich jedoch ein unterschiedliches seelisches Belastungspotenzial und folgen eigenen Logiken.

Der Klimawandel folgt einer linearen Logik: In 3–4 Jahren wird die Erderwärmung um 1,5 Grad steigen. Psychologisch betrachtet wirkt dies fast beruhigend, weil es berechenbar scheint. Diese trügerische Berechenbarkeit ist in ihrer Verharmlosung jedoch gefährlich. Die Coronakrise hingegen gehorcht einer exponentiellen Logik, die Zahlen verdoppeln sich, es fängt erst harmlos an und verschlimmert sich zunehmend. Diese Erregungslogik findet ihr Pendant im gesellschaftlichen Klima: Menschen kämpften nicht nur gegen den Erreger, sondern als Ausdruck dieser exponentiellen Logik machte sich auch eine Erregung in der Bevölkerung breit und führte schnell zu starker Polarisierung.

Die seelische Belastung im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen folgte einer Eskalationslogik: Es drohte die Gefahr, dass über Nacht alle Zivilisation lahmgelegt, ja zerstört werden kann. Zu Kriegsbeginn löste dies eine schockartige Wirkung aus, die auch die Menschen in Deutschland lähmte, die sich jedoch nicht lange hielt. Alsbald wurde weitestgehend versucht, den Krieg zu verdrängen, Menschen übten sich in Normalitätsbeschwörung und hielten so die grauenvollen Bilder des Krieges von sich fern. In einer Art Kriegstinnitus wirkte das grauenvolle Kriegsgeschehen jedoch fort und war im Alltag mal mehr, mal weniger stark spürbar.

Darauf folgte die Selbstvergessenheit des Sommers. Die Menschen in Deutschland wollten wieder Sinnlichkeit und Unbeschwertheit erleben, man feierte sich und das Leben, gönnte sich seinen langersehnten Urlaub, zumindest jedoch viele laue Sommerabende. Nach dieser Sommerpause der Probleme machte sich in der Energiekrise, gepaart mit der Inflation das Gespenst des Ungewissen breit. In einem unberechenbaren Bedrohungsszenario blickten die Menschen ängstlich in den Krisenherbst.

Die von den Krisen kräftig durchgerüttelte Bevölkerung befindet sich seitdem in einer seelisch beunruhigenden Übergangsphase. Inflation, Preisexplosionen, Krieg und Erderwärmung ballen sich zu einer Drohkulisse, die im Alltag spürbar wird.

Eine Verschränkung der Krisen schürt sowohl Ängste, hinsichtlich einer Verschlimmerung der Szenarien oder aber auch die Hoffnung einer gegenseitigen Relativierung nach dem Motto: Ein milder Winter dank der Klimakrise verschont vor zu starken Heizkosten. Das Leben ist nicht nur zu einem finanziellen, sondern auch zu einem seelischen Balanceakt geworden.

Spaltung forciert sich

Ungleiche Voraussetzungen forcieren eine Spaltung der Gesellschaft – denn anders als das Virus trifft die Inflation nicht jeden Menschen gleich. Die Auswirkungen der Krise werden sehr unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet. Während sich am oberen Rand der Gesellschaft weniger budgetierte Haushalte das Sparen sparen können und mitunter die Krisenanzeichen verdrängen, indem sie mit Konsum überkompensieren, stecken die anderen längst in einer finanziellen Sackgasse. Spartipps werden als Verhöhnung ihrer Situation erlebt.

Wieder andere haben Abstiegsängste und strampeln sich bereits ab, um den Lebensstandard zu halten und Menschen in der oberen Mitte der Gesellschaft erleben die Krise als Drohkulisse, fürchten jedoch keinen massiven Einbruch ihres Lebensstandards. Je mehr sich die unbestimmten Krisen- und Kriegsfolgen in Ereignissen und Teuerungen manifestieren, desto größer wird aber auch bei ihnen der Wunsch nach Stabilisierung, Selbstwirksamkeit und angstreduzierenden Umgangsformen. Für diejenigen, für die das Sparen keine existenzielle Notwendigkeit ist, können Einschränkungen mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden, die die Sparbereitschaft steigern und zugleich den Alltag stabilisieren können. Mit einem Sparen im Sinne eines »Weniger ist mehr« wollen sie das Leben vereinfachen und entschleunigen und so den Weg zu bewussterem Leben bereiten. Das Sparen als Ausdruck der Solidarität soll einen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder Widerstand gegen Putin leisten.

Durch das smarte Sparen gelingt es, weniger Geld auszugeben, ohne dabei substanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, und sich zugleich als beweglich gegenüber der Krise zu erleben. Im beruhigenden Sparen kann man beispielsweise durch unterstützende Hilfsmittel wie Haushaltsbücher oder SparApps die Kontrolle bewahren und somit seine Selbstwirksamkeit steigern. Das spartanische Sparen soll nach dem Vorbild der antiken Spartaner die persönliche oder gesellschaftliche Widerstandskraft stärken. Verzichtsleistungen oder kaltes Duschen erscheinen dabei als Akt der persönlichen Abhärtung. Das moralische Sparen hingegen macht die persönliche Einschränkung zu einer vorbildlichen Tugend.

Soziale Abfederung und Zukunftszuversicht

Die Krisenpermanenz führt bei der deutschen Bevölkerung zu Verunsicherungen und Ängsten vor einer ungewissen Zukunft. Sie kratzt an ihrem Fundament. Die Menschen bewegen sich zwischen Resignation, Trotz und Wut und sehnen sich zugleich nach einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft. Durch anhaltende strukturelle Veränderungen realisieren sie, dass es nicht mehr so sein wird wie früher und versuchen sich darin einzurichten, dass Krisen künftig zur Normalität gehören werden. Nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für Politik, Unternehmen und Markenverantwortliche geht es um die Frage: »Was brauche ich, was muss ich jetzt tun, dass ich durch die nächsten Krisen resilient hindurchkomme?«

Resilienz einzuüben, bedeutet nun aber nicht, um Krisen herum zu kommen, sondern ein Risikomanagement zu etablieren. Persönlich wie unternehmerisch wird es in Zukunft darum gehen, Krisen auf unterschiedlichen Ebenen zu begegnen, die sich nicht planen lassen. Wir können nicht eine Zukunft ohne Krisen planen, aber wir können lernen, mit Krisen umzugehen. Menschen spüren bereits, dass dies sowohl andere Strukturen, anderes Handeln und Planen als in der Vergangenheit erfordert. Dies birgt zugleich die Chance auf mehr Kreativität und Produktivität.

Dazu braucht es Transparenz, Präsenz und Verlässlichkeit. Wenn Politik, Unternehmen oder auch Marken in einer Zeit der Unbestimmtheit abtauchen, dann vergrößern sie die Angst. Menschen brauchen jetzt klare und bestimmte Aussagen, an die sie sich halten können. In diesen unsicheren Zeiten helfen zudem stabilisierende Botschaften. Bei allem Umbruch zu spüren, auch etwas bewahren zu können, zu erleben, dass die Welt, wie sie mir lieb und teuer ist, nicht komplett untergeht. Mit einem positiven Zukunftsausblick als eine mögliche Antwort auf die Zeitenwende kann mutmachend Zukunft angegangen werden.

Wir brauchen als Gesellschaft eine ehrliche Auseinandersetzung über unsere Möglichkeiten, den Beschneidungen und den damit einhergehenden Kränkungen zu begegnen, über unser Aufbegehren dagegen sowie ein Abwägen der Risiken und der selbstverantwortlichen Entscheidungen für unser Tun. Auch in der Krise gibt es kein einfaches Entweder-oder, sondern es muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Nicht das adäquate Einhalten von Regeln, Sparen oder Verzichten hemmen, sondern das unbewusste Festhalten an Zeiten »vor der Krise« lähmt uns.

Wir spüren derzeit mehr denn je, dass nicht alles machbar ist, aber wir müssen nicht in dem erstarrten Zustand von bewegungsloser Ohnmacht verharren. Wagen wir uns wieder mehr ins unbekannte Draußen, dann geht das Leben weniger an uns vorbei und die Energie kommt wieder zurück in unser Leben.

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