Stern Jugendstudie: “Die Lockdowns waren für die Jugendlichen Schwerstarbeit”

stern Jugendstudie

Diplom-Psychologin Birgit Langenbartels hat mit dem stern untersucht, wie die Corona-Pandemie das Leben junger Menschen verändert hat. Im Interview spricht sie über die Enttäuschungen der Generation Z und erklärt, was Eltern jetzt beachten sollten.

Dieses Interview erschien am 27. Juni 2022 im stern.

Frau Langebartels, Sie haben für den stern die Situation der Jugendlichen in Deutschland erforscht. Was hat Sie dabei besonders überrascht?

Mich hat überrascht, wie viele Jugendliche während der Pandemie über sich hinausgewachsen sind. Viele haben gelernt, ihr Leben in die Hand zu nehmen, was sie brauchen, um sich zu entwickeln, was ihnen wichtig im Leben ist und worauf sie verzichten können. Sie haben erfahren, auf wen in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft Verlass ist und auf wen nicht. Vor allen Dingen haben viele gemerkt, wie sie sich Strategien aneignen können, um in dieser Welt der Krisen zu bestehen. Das gilt aber nicht für alle Jugendlichen. Ein signifikanter Teil der Befragten hat während der Pandemie gelitten. Viele haben körperliche und psychische Symptome entwickelt. Weniger überrascht hat mich, dass das vor allem auf jene Jugendlichen zutrifft, die es ohnehin nicht leicht haben.

Was genau meinen Sie damit?

Die Jugendlichen sind unterschiedlich in die Pandemie gestartet. Manche hatten eine sichere Basis durch Familie, Freundeskreis und Vereine. Je sicherer diese Basis war, desto weniger hat die Pandemie sie negativ beeinflusst. Diejenigen, denen diese Basis fehlt, litten unter der Pandemie stärker. Das traf auf einen signfikanten Teil der Befragten zu, 61 Prozent der Befragten hat sich in dieser Zeit einsam gefühlt. Einige haben körperliche und psychische Symptome entwickelt, wie Essstörungen und Angstzustände.

Eine Jugendliche drückte ihre Situation während der Pandemie so aus: „Alles war leer, ich war leer, wir lebten in der Zeit der Masken.“ Wie stark sollten uns solche Zitate und Zahlen besorgen?

Wenn ich mir anschaue, wie voll die Praxen der Kinder- und Jugendpsychologen sind, wie lange viele junge Menschen auf einen Therapieplatz warten müssen, dann sollte uns das sehr besorgen. Wir hoffen, dass viele Jugendliche nun einiges aufholen und das Gefühl der Einsamkeit bei vielen verschwinden wird.

Die Hälfte der Befragten meint, es fällt ihnen heute schwerer auf Menschen zuzugehen oder neue Leute kennenzulernen. Fast genauso viele sagen, sie haben weniger Freundinnen als vor der Pandemie.

Das Bild bereitet mir tatsächlich Sorge. In der Pandemie durften sich viele Jugendliche nur mit einem einzigen weiteren Jugendlichen aus einem anderen Haushalt treffen. Das hieß: Sie mussten sich für eine einzige Freundin oder einen einzigen Freund entscheiden. Dieser Zwang wurde von vielen als weitere enorme Kränkung wahrgenommen. Freundschaften standen auf Messers Schneide. Andere wurden in den digitalen Raum verlegt, insbesondere in die Welt des E-Gaming.

Gamen als ein Vorwand, um in Ruhe zu quatschen?

Eltern werfen ihren Kindern gerne vor, dass sie nur rumdaddeln würden. Aber während der Pandemie dienten Games, die man übers Internet mit Freunden spielt, als essenzieller Ersatztreffpunkt. Sowohl für Jungs als auch für die Mädchen boten sie eine Möglichkeit, Kontakt zu ihresgleichen zu halten. Vielen ging es in erster Linie nicht um das Computerspiel, sondern es ging um den sozialen Austausch. Das hat vielen Jugendlichen durch die Pandemie geholfen.

Wie stark haben soziale Medien und Influencer das Leben der Jugendlichen während der Pandemie bestimmt?

Vor allem TikTok-, YouTube- und Instagram-Influencer wurden für viele zu wichtigen Größen und täglichen Begleitern, mit denen sie morgens in den Tag starten und abends ins Bett gehen. Für 16 Prozent gehören sie zu den wichtigsten Vorbildern, vor Vereinskollegen, Aktivisten oder den Lehrern, die ganz weit abgeschlagen sind. Aber die Jugendlichen sind auch kritischer geworden, wenn sie auf meist fröhlich wirkende Insta-Welt mit all den bearbeiteten Fotos blicken. Sie suchen Authentizität.

Sie haben eben Strategien erwähnt, welche die Jugendlichen entwickelt haben, um in der Welt der Krisen zu bestehen. Welche sind das?

Viele Jugendliche haben gelernt, wie sie sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen können. Viele Probandinnen und Probanden berichteten uns davon, wie sie mithilfe von Youtube-Videos lernten, wenn ihre Lehrer mal wieder nicht zu erreichen waren. Zu lernen, wie sie am besten lernen, ist womöglich einer der bedeutendsten positiven Nebeneffekte der Pandemie. Viele achteten mehr auf sich und ihre Ernährung, sind Vegetarier geworden oder essen weniger Fleisch. Viele haben, als sie gezwungen waren, ihre Zeit zu Hause zu verbringen, auch ihre kreative Seite kennengelernt, ein neues Instrument gelernt oder sich künstlerisch zu verwirklichen.

Das klingt romantisch. Ihre Studie zeichnet aber auch das Bild einer enttäuschten Generation Z.

In der Tat hatten viele Jugendliche das Gefühl, in den vergangenen zweieinhalb Jahren ins Nichts zu arbeiten. Es hat nicht wirklich interessiert, ob sie ihre Hausaufgaben machten oder ob sie überhaupt am Unterricht teilnehmen. Viele haben eine starke Überforderung gespürt, bei sich selbst, aber auch bei den Lehrkräften. Mehr als jeder Zweite fühlt sich von den Lehrern allein gelassen. Dazu kam die Enttäuschung von der Politik. 80 Prozent der Befragten beklagen, dass ihnen von der Politik nicht zugehört wurde und ihre Anliegen nicht ernst genommen wurden.

In der Hochphase der Fridays-For-Future-Bewegung 2019 galten die Jugendlichen als die vernünftigeren Erwachsenen. Es sah so aus, als würden die Gesellschaft die Jugendlichen und ihre Anliegen endlich ernster nehmen.

Mit Beginn der Pandemie änderte sich das. Plötzlich waren die Jugendlichen nicht mehr gefragt. In der Wahrnehmung der Politiker stürzten sie damals ab, waren nicht mehr wichtig. Zuerst ging es nur um die alten Menschen und die Risikogruppen, dann ging es um die Eltern im Home-Office, um die kleinen Kinder in Kitas, Kindergärten und Grundschulen. Die Jugendlichen hingegen wurden als erste nach Hause geschickt und als letzte geimpft. Das hat viele sehr gekränkt.

Was haben die Lockdowns mit den Seelen der Jugendlichen gemacht?

Eine politisch verordnete Stilllegung steht dem jugendlichen Erproben und Tätigwerden diametral entgegen. Das seelische Immunsystem braucht eine Vielfältigkeit an Skills – nicht nur die vernünftigen. Für die Jugendlichen waren die Lockdowns daher Schwerstarbeit. Eine Probandin sagte uns, sie habe zwei Jahre lang das Gefühl gehabt, ihre Stimme zu verlieren. Eine andere, dass es Tage gab, an denen sie nicht mehr aufwachen wollte. Eine meinte: „Ich hab das Gefühl, in meiner Entwicklung mittendrin stecken geblieben zu sein.“ Den Jugendlichen wurden zwei Jahre ihrer Kindheit gestohlen. Es war ein Aufwachsen wie unter einer Glocke. Wie im Treibhaus. Der Krieg in der Ukraine verlängert nun das Leid der Jugendlichen. Dazu passt die Aussage eines weiteren Probanden, der sagte: „Klimawandel, Corona, Ukraine, das nimmt kein Ende, das ist alles so überwältigend.“

Besonders umstritten waren die Schulschließungen. Was haben diese mit den Jugendlichen laut Ihrer stern-Studie gemacht?

Als man die Schulen schloss, nahm man den Heranwachsenden einen wichtigen Gestaltungspielraum. Hier verbringen sie den Großteil ihrer Zeit und machen viele lebens- und entwicklungsnotwendige Erfahrungen. Zudem rhythmisiert Schule durch festgelegte Rituale den Tagesverlauf der Schüler. In der Pandemie erlebten viele durch den Wegfall der Schule einen belastenden Strukturverlust ihres Alltags. Er wurde formlos, er zerfloss. Tages- und Nachtrhythmus lösten sich bei manchen auf.

Wie sah dieser formlose Alltag konkret aus?

Viele verpassten den Online-Unterricht, lernten nicht, kamen nicht aus dem Bett. Es gab kaum Kontrollen, manchen Lehrern fiel noch nicht einmal auf, ob die Schüler anwesend sind oder nicht. Manche Lehrer tauchten völlig ab, andere überforderten die Schüler mit zu vielen unverständlichen Aufgaben, die per E-Mail verschickt wurden.

In der Studie ist von einer besonderen moralischen Last die Rede: Jugendliche liefen stets Gefahr, durch unvorsichtiges Verhalten die eigenen Großeltern zu gefährden.

Dieser Faktor wurde lange Zeit kaum beachtet. Die Studie zeigt, dass sehr viele Jugendliche unter dieser Verantwortungslast litten. Sie erlebten eine Diskrepanz: Auf der einen Seite wurden sie als unwichtig wahrgenommen, als eine Gruppe, die eher stört, weil sie in der Öffentlichkeit mit illegalen Partys auffällt. Auf der anderen Seite wurde ihnen eine ungeheure Macht zuteil, die fast alle Jugendlichen erschreckt hat. Vergaßen sie zum Beispiel einmal, Maske zu tragen, gefährdeten sie ihre Familien zuhause. Ihnen fortlaufend auch medial zu schildern, dass sie mit ihrer puren Anwesenheit Oma und Opa töten können, hat viele verstört.

Sie haben in langen Tiefeninterviews 30 Probandinnen und Probanden befragt. Wie gern haben die Jugendlichen über ihr Leben in der Krise gesprochen?

Viele Jugendliche waren sehr froh, endlich von Ihren Erfahrungen berichten zu können. Eine junge Frau bedankte sich nach dem Interview bei uns, dass ihr mal jemand zugehört habe, das sei in den zwei Jahren davor nicht vorgekommen. Die Frau hatte Tränen in ihren Augen. Sie war nicht die einzige Probandin, die während des Interviews geweint hat.

Bei welchen Fragen reagierten die Probanden besonders emotional?

Dies geschah, wenn die Jugendlichen erzählten, dass sie während der Pandemie niemanden hatten, dem sie sich haben anvertrauen können. Außerdem ärgerte viele, dass sie das, was sie sich während des Homeschoolings aus eigenem Antrieb und mithilfe von Internetvideos oder anderen Quellen selbst beigebracht haben, nach den Öffnungen in ihren Schulen kaum mehr nutzen konnten. Da stießen wir auf viel Unverständnis. Ein junger Mann sagte uns, dass er sauer werde, wenn andere, vor allem Lehrer, nicht interessiert, was er alles zu Hause gemacht, wie er sich organisiert habe, auf was er verzichten musste und welche Ängste daraus erwachsen seien.

Wird in den Schulen den Jugendlichen gerade also wieder ihre Selbstständigkeit abtrainiert?

Das scheint so zu sein, sagen zumindest die Befragten der Studie. Ein junger Mann hatte sich während des Homeschoolings, wie er im Interview erzählte, in Mathe, Physik und Chemie komplexe Zusammenhänge selbst beigebracht. Zurück in der Schule wird er wieder zum Angestellten umerzogen, wie er es ausdrückte. Viele Lehrer kehren zum alten Frontalunterricht von früher zurück und verzichten auf digitale Lehrinhalte. Eine Schülerin aus der Studie sagte: „Die Lehrer denken, sie könnten einfach weiter machen wie vorher, aber das geht nicht.“ Das ist meines Erachtens ein wichtiger Punkt, der bisher von den Lehrkörpern, Eltern und Politikern kaum beachtet wird.

Wie haben die befragten Jugendlichen auf die Invasion Russlands in die Ukraine reagiert?

Viele Jugendliche haben sich durch den Krieg weiter in ihr emotionales Schneckenhaus zurückgezogen. Die Jugendlichen wollten in den Interviews mit uns von sich heraus so gut wie nicht über den Krieg sprechen. Wir Wissenschaftler mussten das Thema Krieg von uns aus ansprechen.

Wie erklären Sie sich das?

Das Thema Krieg wird von vielen als so belastend wahrgenommen, dass sie es ausblenden und auch kaum Medienberichte mehr darüber verfolgen. Sie möchten das Thema nicht an sich heranlassen. Der Krieg vergrößert das seit der Pandemie vorherrschende Gefühl der Unsicherheit und ergänzt es um das Gefühl einer akuten Bedrohung. In den ersten Kriegstagen hat das noch dazu geführt, dass sich viele Jugendliche in Solidaritätsbekundungen zusammengefunden oder Hilfspakete geschnürt haben. Damals kamen auch die jungen Menschen, die wir befragt haben, kaum von den Nachrichten los. Das hat sich sehr verändert. Nun versuchen sie, den Krieg fernzuhalten, indem sie sich distanzieren. Manche beruhigten sich, indem sie darauf verweisen, dass der Krieg tausend Kilometer weg sei.

Was ungefähr der Strecke von Flensburg nach Füssen entspricht.

Es wird unter den Jugendlichen gefiltert. Das heißt, es werden nicht mehr alle Nachrichten angeschaut wie anfangs. In einer Diskussion hörte ich einen jungen Mann sagen, das in der Ukraine sei schrecklich, aber dafür sei bei ihm der Abiball ausgefallen – das sei ja auch schlimm. Es scheint banal, aber solche Ereignisse sind wichtig, wie Initiationsriten, die einen neunen Lebensabschnitt einleiten.

In der Studie schreiben Sie, dass viele Jugendliche immer öfter ihren eigenen Eltern Trost spenden müssen, nach dem Motto „Papa, es wird schon keinen Atomkrieg geben“. Mutet die hypersensible Erwachsenengeneration ihren Kindern nicht etwas viel zu?

Ja, für 18-, 19-Jährige ist das eine unfassbare Forderung. Diese Entwicklung zeichnete sich aber bereits vor Corona ab. Das System Familie, das eigentlich Kinder stabilisieren soll, wird als immer instabiler wahrgenommen. Kinder spüren die Überforderung ihrer Eltern aufgrund der vielen gesellschaftlichen und technologischen Umbrüche. Die Gefahr, dass die Familie auseinanderbrechen könnte, ist verinnerlicht. Nun wird auch noch die Welt außen rum unsicherer.

Wie lenken sich die Jugendlichen von der Krisenpermanenz ab?

Viele versuchen, ein Gegengewicht zu finden. Eine junge Frau sagte, sie schaue nach schlechten Nachrichten immer einen „schönen Film“ auf Netflix an. Der Krieg ist für Menschen aber auch dann nicht weg. Was verdrängt wird, ist trotzdem wirksam. Die Kriegsangst ist wie ein Tinnitus. Ein unangenehmer Ton, der mal mehr, mal weniger deutlich wahrnehmbar ist.

Was sagen Sie jenen, die nun einwenden, dass die Jugendlichen nicht so empfindlich sein, sondern wertschätzen sollten, wie gut es ihnen geht?

Viele Jugendliche sind dankbar. Die meisten Befragten beschwerten sich zum Beispiel nicht über die Regeln der Corona-Maßnahmen und hielten sie meistens ein, selbst wenn sie diese manchmal nicht verstanden. Viele gaben an, dass sie gelernt haben, kleine Dinge zu wertschätzen, wie eine Kaffee mit einer Freundin trinken zu gehen. Beim 18. Geburtstag freuten sich einige, wenn sie ihn mit zehn Gästen feiern durften.

Welche Rolle spielte während der Pandemie alles, was süchtig machen kann?

Natürlich wollen Jugendliche ab und an über die Stränge schlagen, aber insgesamt dominiert bei ihnen der Wunsch, das Leben unter Kontrolle und den Körper in Schuss zu halten. Viele gaben in den Gesprächen an, dass sie deshalb wenig Alkohol trinken. Aber es gibt auch hier eine Gegenbewegung. Viele Jugendliche erzählten von Freunden, die morgens schon zum Joint griffen. Manche berichteten, dass sie nur noch gezockt hätten. „Was sollte ich auch sonst machen?“, meinte einer. Ein anderer sagte: „Ich hab mich zugekifft und stumpf irgendwelche YouTube-Videos geguckt.“ In der quantitativen Befragung gaben 58 Prozent gab an, mehr Zeit im Internet verbracht zu haben als vor der Pandemie. Nur rund jeder Vierte hat die Bildschirmzeit seit Ende der Lockdowns wieder reduziert.

Sie haben sechs Typen herausgearbeitet, wie Jugendliche mit den Dauerkrisen umgehen. Welche hat es am schwersten?

Das trifft wohl auf die „haltlosen Eskapisten“ zu. Sie sind während der Pandemie in eine Parallelwelt geflüchtet, die oft digitaler Natur ist. Und wer schon vorher Schwierigkeiten im sozialen Kontext hatte, Menschen an sich heranzulassen oder Freundschaften zu pflegen, der hat sich während der Pandemie oft noch mehr in die digitale Welt zurückgezogen. Für sie ist es nun besonders hart, wieder zurück ins Analoge zu finden. Ein zweiter Typ, um den man sich Sorgen machen kann, ist der „Nesthocker“. Er igelte sich während des Homeschoolings zuhause so ein, dass ihm der Rückweg in die wirkliche Welt schwerfällt.

Was ist so schlimm daran, zuhause zu chillen?

Im Jugendalter muss man nicht dauernd Party machen, aber doch gehört es zu diesem Alter dazu, solche Erfahrungen zu machen, rauszugehen und Überbordendes zu erleben. Auch die Nesthocker müssen sich nun auch wieder ins Leben wagen mit all den Unsicherheiten.

In der Studie verwenden Sie das Bild eines Treibhauses, in dem die Jugendlichen während der Pandemie eingesperrt waren. Was ist damit gemeint?

Ja, Entwicklung geht nicht unter permanent kontrollierten Bedingungen wie in einem Treibhaus. Kinder müssen aus diesem Treibhaus rausgelassen werden. Partys, sich verlieben, sich vielleicht mal betrinken, bei anderen anecken, miteinander lachen, in Auseinandersetzungen treten. Jugendliche benötigen das Zufällige, das Unkalkulierbare.

Wird man den heutigen Jugendlichen in zehn Jahren anmerken, dass ihre Entwicklung von der Corona-Pandemie ausgebremst wurde?

Es werden sich auf jeden Fall alle Jugendlichen an diese Zeit erinnern. Aber ich glaube nicht, dass eine zerstörte Generation heranwächst. Die Jugendlichen haben während der Pandemie viel gelernt, wovon sie ein Leben lang profitieren werden.

Vor rund hundert Jahren sollen nach der Spanischen Grippe viele Überlebende Phobien gegenüber Mitmenschen entwickelt und Körperkontakt mit Fremden vermieden haben. Droht uns das nun wieder?

Viele der befragten Jugendlichen haben Unsicherheiten im Umgang mit neuen Situationen und fremden Menschen entwickelt, teilweise sogar Sozialphobien. Andere sind depressiv geworden. Diesen Teil der Jugendlichen sollten wir viel stärker unterstützen. Ich habe die Aussage einer jungen Frau in Erinnerung, die es schon eklig fand, wenn sie jemanden sieht, „wie er atmet“. Ich bin keine Therapeutin, aber von Kollegen weiß ich, dass üblicherweise die meisten Menschen solche Ängste mit der Zeit überwinden können.

Ein anderes Ergebnis der Studie hat viele überrascht: Nur elf Prozent der Befragten hält Umweltschutz für „besonders wichtig“, fast ein Viertel sogar für „eher unwichtig“ oder „unwichtig“. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Andere Themen, vor allem die Pandemie und der Krieg, haben das Thema Umweltschutz komplett überlagert. Das zeigt die Studie ganz deutlich. Die Sorge um die Familie, dass jemand erkranken könnte, oder vor mangelnder Kondition infolge von Long-Covid überlagert die noch größtenteils abstrakte Angst vor der Klimaerwärmung oder dem Artensterben. Speziell die persönliche Gesundheit ist vielen Jugendlichen besonders wichtig.

Die beschriebene Enttäuschung der Jugendlichen von der Politik wirkt wie eine Einladung für Extremisten.

Diese Verunsicherung ist auf breiter Ebene zu spüren, nicht nur bei Teenagern. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass die befragten Jugendlichen verstärkt Extremisten anheimfallen könnten.

Was wünschen sich die Jugendlichen nun?

Es mag wenig überraschen, aber ein Wunsch vieler Jugendlicher lautet, es wieder krachen zu lassen, feiern zu gehen und das Leben zu genießen. Die meisten haben eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die muss aber nun wieder eingeübt werden.

Welcher Auftrag ergibt sich Ihrer Meinung nach aus der stern-Jugendstudie für die Erwachsenen?

Sie sollten den Jugendlichen zuhören und sie mit einbeziehen. Sie sollten sie machen lassen und da unterstützen, wo sie Unterstützung brauchen. Was die Jugendlichen jetzt zu am dringendsten zu benötigen scheinen, ist Zuversicht und Vertrauen in ihre Fähigkeiten sowie die Möglichkeit, auch mal Unkontrolliertes zuzulassen und Fehler machen zu dürfen. Das gilt für kaum eine Generation so wie für diese.

Aber wie will man als Erwachsener vermitteln, dass alles gut wird, wenn man angesichts der Weltlage – vom Klimawandel bis zum Preisschock – selbst kaum daran glauben mag?

Es geht nicht darum, eine schöne heile Welt vorzugaukeln. Wir alle müssen den Schock verkraften, dass das „höher, schneller, weiter“ nicht mehr so weitergehen wird. Die genannten Krisen zwingen uns zur Einsicht, dass wir in einer unsicheren Welt leben. Das ist kein neuer Gedanken, aber einer, den viele Menschen lange verdrängt haben. Das ruft Verunsicherung hervor, führt bei den Jugendlichen aber auch dazu, dass sie sich ihrer Stärken bewusster werden. Dabei sollten wir sie unterstützen, ihnen mitgeben: „Du hast das Leben nicht komplett in der Hand, aber kannst etwas bewirken auf dieser Welt.“ Darin steckt durchaus eine große Chance.

Das Interview führte Stephan Seiler.

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