Vom Ende des Lockdowns und enttäuschten Erwartungen

Vom Ende des Lockdowns

Wieso hatten die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in Deutschland so viele Teilnehmer? Stephan Grünewald sieht einen Zusammenhang mit den Erfahrungen der Coronakrise.

Das Interview mit Stephan Grünewald erschien am 11. Juni 2020 im Spiegel.

Herr Grünewald, gerade noch saßen alle, die konnten, zu Hause und haben sich isoliert – und nun erleben wir große Demonstrationen und Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt. Sie sagen: Das ist kein Zufall. Warum nicht?

Es gibt natürlich den konkreten Auslöser, der auch vor Corona die Menschen mobilisiert hätte. Die Mobilisierung ist aber durch Corona deutlich stärker, weil die Corona-Krise uns in mehrfacher Hinsicht sensibilisiert hat.

Für was wurden wir sensibilisiert?

Gerade anfangs wurde Corona als kollektives Schicksal erlebt, als Gleichmacher, als Virus, das keine Klassenunterschiede kennt, das vor niemandem halt macht. Wir hatten in der ersten Phase einen Kollektivgeist und Schulterschluss. Es gab ein Einverständnis zwischen Ärzten, Politikern, Medien und Bürgern, der zu einem kollektiven Bremsaktivismus führte. In der zweiten Phase aber, die mit dem Lockdown begann, traten die Gräben, die ohnehin schon da waren, noch deutlicher hervor.

Welche Gräben?

Angefangen vom Homeschooling bis hin zu den Wohnverhältnissen wurde klar, dass es deutliche Klassenunterschiede in Deutschland gibt. Wer zu Hause bleiben soll und da ausreichend Quadratmeter hat oder einen Garten, der ist ganz anders aufgestellt als jemand, der mit einer mehrköpfigen Familie in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung auskommen muss. Wir haben durch Studien festgestellt, dass es in dieser Phase zu einer enormen Spreizung der Lebenswirklichkeit gekommen ist. Für die einen bedeutet Corona eine existenzielle Verunsicherung, weil sie das Gefühl haben, überfordert zu sein und zu kollabieren. Die anderen haben es sich in einer Biedermeier-Gemütlichkeit eingerichtet und genießen die Entschleunigung.

Wir wurden also für Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft sensibilisiert. Aber wir gehen nicht gegen zu hohe Mieten oder für höhere Löhne von Krankenpflegern auf die Straße, sondern gegen Rassismus.

Rassismus war immer schon ein Grund für viele, auf die Straße zu gehen. Aber die Antennen wurden jetzt neu ausgerichtet. Weil wir zwischenzeitlich die Hoffnung hatten: Vielleicht führt Corona zu einer solidarischeren Gesellschaft, in der alle wertgeschätzt werden. Viele haben dann auch jeden Abend den Mitbürgern Beifall gezollt, die bislang übersehen oder unterbezahlt wurden.

In der zweiten Phase, wie Sie es nennen, gab es auch noch andere Proteste: gegen vermeintlich überzogene Corona-Maßnahmen, sowohl bei uns als auch in den USA.

Wir haben derzeit ein gesteigertes Wutpotenzial in der Bevölkerung. Corona ist eine fremde und unfassbare Bedrohung, die der Einzelne nicht wahrnehmen kann und gegen die er nichts ausrichten kann. Eine solche Ohnmachtserfahrung ist schwer aushaltbar. Von daher steigt seit Corona die Gefahr, dass die Bedrohung und das damit verbundene Befremden vermenschlicht wird. Die Sehnsucht nach einem sichtbaren Feind oder Sündenbock wächst, den man bekämpfen kann. Das ist der Nährboden für Alltagsrassismus und Verschwörungstheorien, die ja letztendlich auch Versuche sind, einen Schuldigen zu definieren, gegen den man vorgehen kann. Manche haben die Schuld auch vom Virus auf den Staat verlagert, der die Freiheitsrechte einschränkt und gegen den sie trotzig aufbegehren. Auch die Proteste jetzt sind im Übrigen deshalb erfolgreich, weil sie das Ohnmachtsgefühl kanalisieren gegen einen sichtbaren Feind – die gewalttätige Polizei.

Und jetzt sind wir in der dritten Phase?

Ja, der Phase der Öffnung. Wir befinden uns auf unbestimmte Zeit in einer Art Zwischenwelt, die seltsam abgedämpft und unsinnlich ist. Wir tragen Maske, sollen uns, so gut es geht, nicht berühren. Unser Leben ist wie ein Geisterspiel der Bundesliga, es hat nicht die Würze und Intensität wie davor. Eigentlich wäre das jetzt eine Zeit des Trauerns und Loslassens. Wir könnten Abschied nehmen von dem, was unser Leben früher bestimmt hat. Wer seine Traurigkeit zulässt, wird empfänglicher für Trost, und er schafft seelisch Raum für Zuversicht und Visionen von einem anderen und gerechteren Leben nach Corona. Es besteht jetzt aber auch die Gefahr, dass viele Menschen ihre Trauer in Trotz und Wut verwandeln und mit aller Macht die alten Verhältnisse restaurieren wollen.

Die Proteste richten sich aber nicht nur gegen gewalttätige Polizisten, sondern auch gegen Alltagsrassismus und damit im Prinzip gegen alle Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft: Denn eine Erkenntnis ist ja, dass niemand gefeit ist gegen rassistische Vorurteile. Das ist wieder relativ diffus.

Phasen des Trauerns sind ein guter Moment für eine Selbstbefragung der Gesellschaft. Wir haben gemerkt, dass es im eigenen Land Menschen gibt, die wir nicht genug wertschätzen. Außerdem sind wir noch auf eine weitere Art sensibilisiert: Wir haben nicht nur die Erfahrung gemacht, dass wir in der Krise nicht alle gleich sind. Sondern auch Menschen, die sonst privilegiert sind, mussten sich einer Macht beugen, der sie hilflos ausgeliefert waren. Das geht so weit, dass es wir jetzt auch alle täglich spüren, wie schwer es fällt durch eine Maske zu atmen. Auch deshalb hat das Video des erstickenden George Floyd so eingeschlagen.

Aber durch eine Maske atmen zu müssen und von einem Polizisten erstickt zu werden, kann man nicht vergleichen.

Ich vergleiche es nicht, es geht mir um eine Sensibilisierung. Wir können uns das Ungeheuerliche besser vorstellen, wenn wir es ansatzweise erlebt haben.

Wenn wir in einer wie auch immer gearteten neuen Normalität ankommen – wie viel bleibt von dieser Empathie?

Die Frage stellt sich immer. Aber diesmal wurde unsere Lebenswirklichkeit tatsächlich auf den Kopf gestellt. In anderen Krisen, wie der Finanzkrise oder auch zum Teil der Klimakrise, konnten wir uns die großen Gefahren immer vom Leibe halten. Wir hatten uns im Auenland verbunkert, Deutschland war lange ein Paradies, und alles was bedrohlich und befremdlich war, haben wir ausgelagert ins Grauenland, das räumlich und zeitlich jenseits unseres Horizonts lag. Jetzt ist mit dem Virus zum ersten Mal das Grauenland ins Auenland eingebrochen.

Und was bedeutet das?

Wir haben gemerkt, dass wir Selbstverständlichkeiten aufgeben und ändern können. Wir haben riskiert, unser gesamtes Land herunterzufahren, um nicht in unmenschliche Entscheidungssituationen zu kommen. Wir waren bereit, wirtschaftlichen Schaden auf uns zu nehmen, um das Gemeinwohl zu stärken. Idealerweise wird diese Sensibilität für Rassismus und Unmenschlichkeit ihre produktive Kraft noch lange behalten.

Das Interview führte Xaver von Cranach.