Wie Corona das gesellschaftliche Wut- und Gewaltpotenzial fördert

Corona fördert Wut- und Gewaltpotenzial

Verschwörungsphantasien wuchern, aus Feierwütigen werden Krawallwütige, Busfahrer, die auf die Maskenpflicht hinweisen, werden verprügelt – der coronabedingte gesellschaftliche Zorn wächst und mündet in Gewalt. Im Welt-Interview spricht Stephan Grünewald über Gründe und Motive, den Möglichkeiten dieser Entwicklung entgegenzutreten und prognostiziert für die kalte Jahreszeit „Verhältnisse (…) wie in einer Tönnies-Kühlkammer“.

Das Interview mit Stephan Grünewald erschien am 14. August 2020 bei WELT.

Sie führen für Politik und Wirtschaft psychologische Tiefeninterviews über die Befindlichkeit der Deutschen. Was geht dem „Psychologen der Nation“ bei Bildern von Corona-Demos in Berlin oder Stuttgart durch den Kopf?

Die mitunter fast schon wahnhaften Verschwörungstheorien verbreiten sich, weil Menschen Erlösung suchen vom Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen. Corona ist eine große Ohnmachtserfahrung und damit ein Quell der Wut. Noch vor kurzem fühlten wir mit unserem Smartphone oder Laptop omnipotent. Auf Knopfdruck konnten wir unser Leben regeln. Dann setzte plötzlich ein Virus Grenzen. Wir sind einer Gefahr ausgesetzt, die wir nicht schmecken, riechen oder wahrnehmen können. Solch ein Feind ist schwer auszuhalten. Für die Psyche ist es der größte Störfall, ohne Handhabe zu sein. Viele Menschen übertragen die nicht greifbare Bedrohung auf den Staat. Er wird jetzt als der eigentliche Aggressor gesehen.

Aber woher kommt diese große Empörung?

Mit lauten Protesten oder auch Verschwörungstheorien wollen die Menschen festen Grund zurückerobern. Sie suchen ein Ordnungssystem mit klaren Handlungsdirektiven. Da wird trotzig festgehalten an dem alten Bild einer Wirklichkeit, die nicht mehr existiert. Teil einer fast sektenähnlichen Gemeinschaft zu sein, hilft zudem gegen Einsamkeit. Hinzu kommt, dass sich Teile der Gesellschaft schon seit der Flüchtlingskrise nicht mehr ausreichend wertgeschätzt fühlen in ihrem Lebensstil oder ihrer Leistung.

Sind auch die Krawallen von Stuttgart und Frankfurt Ausdruck von Corona-Wut?

Schon lange vor der Pandemie befand sich Deutschland in einem aufgewühlten seelischen Zustand. Der Lockdown hat uns dazu gebracht, uns kollektiv einzuwühlen. Viele Probleme waren vorübergehend begraben. Jetzt befinden wir uns in der Auswühlungsphase. Seit wir wieder nach draußen gehen, brechen die Konflikte und gesellschaftlichen Bruchlinien stärker auf als zuvor. Der schwindende, soziale Zusammenhalt, wachsende Klassenunterschiede, ungleiche Bildungschancen, eine allgemeine Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, all das wird durch Corona noch einmal verschärft. Dazu zählt auch die schwierige Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.

Ein Frankfurter Clubbesitzer mutmaßte im WELT-Interview, die Krawallmacher fühlten sich abgehängt und empfänden Deutschland nicht als ihr Land, ihre Heimat. Er meinte, es würde Menschen mit Migrationshintergrund das Zugehörigkeitsgefühl erleichtern, wenn wir Deutschen einen gesunden Patriotismus pflegten. Hat er Recht?

Man kann sich tatsächlich leichter in ein Land integrieren, das mit sich im Reinen ist. Wir haben noch längst nicht die Unverkrampftheit anderer Länder, auch wenn die WM 2006 eine nationale Lockerungsübung in Sachen Patriotismus war. Viele Menschen im linken Spektrum beurteilen immer noch alles argwöhnisch, was mit Heimat oder nationaler Identität zu tun hat. Im Extrem halten sie dann im Fußball lieber zu Holland. Am rechten Rand wird überkompensiert und geschichtslos die deutsche Größe apostrophiert. Das führt zu einer schwierigen Gemengelage für Menschen mit Migrationsgeschichte. Wer die Heimat wechselt, steht ohnehin immer in einem Loyalitätskonflikt. Das Gefühl plagt, die Herkunft der Eltern zu verraten. Und wenn ich dann auch noch das Gefühl habe, dass mich die neue Heimat nicht so annimmt, wie ich mir das wünsche, wird dieser Loyalitätskonflikt weiter verstärkt.

Und für all diese Konflikte ist Corona also eine Art Brandbeschleuniger?

Es gärt schon länger, aber durch Corona wurden ganze Lebenswirklichkeiten komplett aufgespalten. Zu Beginn gab es noch den kollektiven Schulterschluss, aber schnell brachen polare Fronten auf. Gesundheit versus Wirtschaft, Jung gegen Alt, Krisengewinner gegen Verlierer, Staatsgläubige gegen Freiheits-Apostel. Die einen erleben Corona als existenzielle Verunsicherung und unglaubliche Zumutung. Sie bangen um ihre Arbeit oder Firma, oder sie sind überfordert durch häusliche Enge und Homeschooling. Es fühlt sich an wie eine Vorhölle. Andere haben im Lockdown die Entschleunigung genossen und hatten die geruhsamste Zeit ihres Lebens. Diese Gruppe hat sich in einem Corona-Biedermeier wohlig eingerichtet und hätte nichts gegen eine Verlängerung. Das beschert große Spannungen.

Wo stehen wir derzeit?

In einer Experimentierphase, die den gesamten Alltags neu normiert. Wir tarieren aus, wie Schule, Urlaub, Einkaufen oder die private Feier mit Corona funktionieren kann. Auf dem Weg kann man auch mal aus der Kurve fliegen. Zuviel Einschränkung gibt uns das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Das zu starke Ausleben produziert Bilder von Feiern oder vollen Urlaubsstränden und schürt die Angst vor einer zweiten Welle. Irgendwo dazwischen muss sich die neue Wirklichkeit einspielen. Der Alltag darf sich nicht auf Dauer anfühlen wie ein Geisterspiel der Bundesliga.

Drohen wachsende Aggressionen zwischen den Vorsichtigen und den Lockeren? Busfahrer wurden schon verprügelt, weil sie zum Maskentragen auffordern.

Die Maske wird als Sinnbild der Bevormundung erlebt, im doppelten Sinne des Wortes. Sie ist gerade in einem Land, das sich als besonders ‚mündig‘ betrachtet, ein ungeheures Ärgernis. Es ist aber wichtig, die Maskenpflicht konsequent zu kontrollieren und Verstöße zu sanktionieren. Sonst bekommt die Maske einen heraldischen Charakter, sie wird zum Ausweis einer Gesinnung. Ich signalisiere dann damit, ob ich ein vorsichtiges Naturell bin oder ob ich Corona bagatellisiere, womöglich gar leugne. Dann passiert dasselbe wie in einem Fußballstadion, in dem die Fanblöcke nicht vernünftig voneinander getrennt sind. Die Maske erhält den Charakter einer Club-Fahne. Und dann wird es im Alltag brenzlig.

Wie lässt sich jemand im Bus oder Zug zum Einhalten der Vorschriften bewegen, ohne dass es Streit gibt?

Eine Ermahnung von oben herab ist nicht ratsam. Stattdessen sollte man von sich selbst sprechen und dem anderen zum Beispiel freundlich sagen: ‚Ich bin beunruhigt und mache mir Sorgen. Ich würde mich freuen, wenn Sie eine Maske aufsetzen.‘

Was erwartet uns im Herbst?

Der wirtschaftliche Druck wird wachsen, ebenso die Fraktion der Ungläubigen und Bagatellisierer. Bei kühlem Wetter werden wir überall Verhältnisse haben wie in einer Tönnies-Kühlkammer. So wie wir jedes Jahr Winterreifen aufziehen, brauchen wir dann künftig Herbst- und Winterstandards für unser Verhalten. Das große Problem wird sein, dass trotz aller Disziplin die Infektionszahlen hochgehen. Wir werden für unser vorsichtiges Verhalten also noch nicht einmal belohnt. Diese Situation wird schwierig zu moderieren sein.

Wie sollte Politik mit der Öffentlichkeit kommunizieren?

Die Bevölkerung hat das große Ziel aus den Augen verloren. Im Moment sitzen wir wie das Kaninchen vor der Schlange und sind fast ganz auf Zahlen und die Bedrohungslage fokussiert. Für mehr Öffnung müssen wir in Kauf nehmen, dass das Risiko steigt. Diesen Risikokorridor, der für uns akzeptabel ist, müssen wir definieren.

Hat Corona auch Gutes beschert?

2019 hingen wir noch in einer Auenland-Bräsigkeit fest. Viele hatten das Gefühl, dass es ihnen ja eigentlich gut geht und sich deshalb am besten nie etwas ändern sollte. Jetzt haben sie erlebt, dass sie ihr Leben sehr wohl umstellen und auf Dinge verzichten können. Viele wollen nicht mehr zurück ins Hamsterrad, sie wollen ihre Arbeitszeit herunterfahren und Zeit sinnvoller gestalten. Konsum wird reflektiert. Es war ein wichtiges Signal, dass im Konjunkturpaket nicht die Automobilindustrie gefördert wurde, sondern neue Technologien.

Warum tut sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet (CDU) so schwer, während Markus Söder (CSU) aus Bayern für sein Krisenmanagement gefeiert wird?

Für jene, die sich im Corona-Biedermeier eingerichtet hatten, ist Markus Söder der Hüter des Paradieses. Seine Botschaft lautet: Bleibt zu Hause, riskiert nichts, draußen lauert der Tod. Armin Laschet war derjenige, der uns aus dem Paradies vertrieb, als er alles früh wieder anlaufen ließ. Aber auch die besonders Gebeutelten, die Eltern etwa, erlebten Söder als die klarere Führungsgestalt. Bei denen konnte er als Drachentöter punkten.

Das Interview führte Hannelore Crolly.