Stephan Grünewald über Alarmstimmung im Alltag

“Wir sind in einem eigentümlichen Zwischenzustand”

Kopf-hoch-Kommunikation: Stephan Grünewald beobachtet einen Zustand zunehmender Erschöpfung in der Gesellschaft. Der Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts sagt im Interview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow, auch nach Corona hätten sich viele Menschen in ihr “privates Schneckenhaus” zurückgezogen. Für Werbetreibende hat er daher eine klare Empfehlung: “Verlässlichkeit zeigen!” Der Alltag sei der große Stabilisator in allen Krisen. Eine Erholung des Werbemarktes sieht er vorerst nicht, plädiert aber dafür, “gerade in Krisenzeiten” Hoffnung zu machen.

Das Interview erschien am 4. Dezember 2022 bei turi2.

Stephan Grünewald, du bist Psychologe und Marktforscher. Die Welt geht in das vierte Krisenjahr in Folge: Erst über zwei Jahre Covid, jetzt Krieg, Wirtschaftskrise und Inflation. Was macht die dauernde Alarmstimmung mit uns?

Wir befinden uns in einem Zustand zunehmender Erschöpfung. Wir haben Anfang 2022, noch vor Kriegsbeginn, in einer großen Studie gefragt, wie sich die Menschen nach zwei Jahren Covid fühlen. Bei den meisten herrschte eine resignative Grundstimmung. Viele hatten sich in einer Art Enttäuschungs-Prophylaxe eingerichtet: Weil die Pandemie ihre Pläne immer wieder durchkreuzt hat, haben sie schon vorsorglich den Erwartungshorizont ihres Lebens gekappt. Und viele hatten das Gefühl, schon zufrieden zu sein, wenn das eigene Leben einen milden Verlauf nimmt. Wir haben eine gewisse melancholische Selbstbezüglichkeit beobachtet, deswegen haben wir das Melancovid genannt.

Und dann kam noch der Krieg dazu als ultimative Verunsicherung…

Mit dem Krieg ist eine Art Eskalationslogik verbunden: Mit einem Schlag könnte unsere ganze Zivilisation beendet werden. Erst guckten die Menschen auf die Newsticker in der Hoffnung, eine erlösende Botschaft zu finden. Dann merkten sie aber, je intensiver die Welt in den Abgrund blickt, desto dumpfer und ungeheuerlicher wird die Stimmung. Seit Mai stellen wir fest, dass der Krieg weitgehend verdrängt wird. Die Leute schauen weniger “Tagesschau” und “heute”. Viele nutzen stattdessen den kurzen Videotext, weil er nicht mit erschütternden Kriegsbildern konfrontiert.


Und wie ist es heute, mitten im dunklen Krisenwinter?

Aktuell sind wir in einem eigentümlichen Zwischenzustand. Die Menschen haben das Gefühl, in einer gespenstischen Unbestimmtheit zu leben. Und das öffnet so einen diffusen Angstraum, dass wir im Winter im Kalten sitzen könnten oder es zum Blackout kommt. Das ist ja eine archaische Urangst: Man kann zwar mal fasten oder mal einen Tag nichts trinken, aber Kälte ist nur ein paar Stunden aushaltbar. Andererseits gibt es die unbestimmte Hoffnung, dass es nicht so schlimm wird und die Krise sich von selbst verflüchtigt, wie wir es bei vergangenen Krisen immer mal wieder erlebt haben.

Was macht die Dauerkrise mit unseren Ansprüchen, die Welt zum Besseren zu verändern. Stichwort Nachhaltigkeit: Drohen die angesichts der Krise in den Hintergrund zu geraten?

Psychologisch betrachtet ist Nachhaltigkeit mittlerweile ein konservativer Anspruch. Es geht darum, die Welt, so wie wir sie kennen und lieben, wie wir sie seit Kindertagen schätzen, zu erhalten. Der Kampf gegen den Klimawandel ist auch ein Kampf gegen den Wandel. Und diese Nachhaltigkeitssehnsucht schwächt sich nicht ab. Sie ist im Moment nicht so ideologisch fundiert wie früher, sondern durch Selbstbezüglichkeit eingefärbt. Also eher die Frage: Was können wir machen, damit unsere kleine Welt stabil und erhalten bleibt?

Was bedeuten diese Entwicklungen fürs Marketing?

Der große Stabilisator in allen Krisen ist unser Alltag: Wenn wir backen, putzen oder uns medial beschäftigen, gibt das Sicherheit. Marken wie Oetker, Persil oder Iglo können jetzt zeigen: Wir sind schon seit mehr als 100 Jahren da und wir haben Kriege und Krisen überstanden. Es lassen sich drei große Empfehlungen fürs Marketing ableiten. Erstens: Verlässlichkeit zeigen! Werbung, die betont, worauf sich die Kunden verlassen können, ist jetzt besonders wirksam – zum Beispiel das Marketing mit Jahreszeiten. Das zeigt: Das Leben geht weiter. Zweitens: Stabilisieren! Ein großes Thema ist Selbstwirksamkeit. Werbung muss zeigen: Wir stärken dich und helfen dir, im Hier und Jetzt zu bestehen und deine Projekte umzusetzen. Drittens: Mut machen, das Licht am Ende des Krisentunnels zeigen! Es geht darum, Visionen zu entwickeln, wie das Leben am Ende der Krise aussehen könnte.

Blicken wir in die Zukunft: Worauf müssen sich die Menschen, die Wirtschaft und die Gesellschaft 2023 einstellen?

Wir beobachten wirtschaftlich eine kipplige Gemengelage, die sich aus zwei Faktoren speist: Die Menschen haben sich in den Krisen in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen. Das Drinnen wird als überschaubar erlebt und mit Erfolgserlebnissen und Geborgenheit verbunden. Das Draußen wird dagegen als unüberschaubar, komplex und tendenziell feindlich erlebt: Die Innenstädte werden weniger beleuchtet, die Bahn wird immer unpünktlicher, Flieger werden gecancelt, Lieferketten funktionieren nicht mehr richtig, dazu kommt der Fachkräftemangel. Alles das macht das Draußen unwirtlicher. Die große Frage wird sein, wie wir das Draußen wieder attraktiv machen, nicht nur mit Beleuchtungskonzepten: In unserer Melancovid-Studie haben 66 % der Menschen gesagt, sie wollen auch nach Corona vorsichtig und zurückgezogen bleiben.

Du hast gerade den Fachkräftemangel angesprochen: Bleibt der uns erhalten, trotz der sich verdüsternden Wirtschaftslage?

Ja, der wird bleiben. Wir haben gerade eine Studie mit der Pawlik Unternehmensberatung zu der Frage gemacht, was Mitarbeitende an ein Unternehmen bindet. Denn die Erosion war noch nie so stark. Durch Home Office und fehlende räumliche Präsenz sinken Angebundenheit an und Identifikation mit Unternehmen. Das führt zu viel mehr Kündigungen. Und die Alterspyramide führt dazu, dass der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren bestimmend bleiben wird.

Wie beurteilst Du den Medienmarkt? Es scheint im Markt angekommen zu sein, dass guter Journalismus auch gutes Geld kosten darf. Wie entwickelt sich die Zahlungsbereitschaft des Publikums?

Es bleibt natürlich eine Schwelle, weil die Menschen gelernt haben, dass es vieles frei Haus gibt. Aber in dem Maße, in dem das private Schneckenhaus wichtiger wird, wollen die Menschen das auch mit guten Serien und netten Accessoires auspolstern. Sie verfallen in eine Art Netflix-Winterschlaf und erst zu Ostern wird Auferstehung gefeiert.

Wie sieht es mit dem Werbemarkt aus? Bleibt der das Sorgenkind?

Ja, wenn die Kunden weiter Budgets kürzen und auf Sparkurs sind, dann bleibt er das Sorgenkind. Ich kann als Marktforscher nur sagen, dass man gerade in Krisenzeiten Hoffnung geben sollte. Und da geht es auch darum, Konsumbilder zu entwickeln, weil es dafür bei den Menschen eine große Sehnsucht gibt. Wir sind zwar aufgefordert, Energie zu sparen. Aber das heißt ja nicht, dass wir in allen Lebensbereichen Spartaner werden müssen. Ganz im Gegenteil: Wir kommen nur gut durch die Krise, wenn wir uns auch Genussmomente gönnen.

Das Interview führte Markus Trantow.