Der unsichtbare Feind

Sinn und Unsinn von Hamsterkäufen

Kiloweise Dosenananas, Nudeln und Toilettenpapier – viele Deutsche verhalten sich derzeit, als gäbe es bald eine Hungersnot. Wie irrational ist das? Und wann haben Vorräte im Keller Sinn?

Wer dieser Tage einkaufen geht, steht mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem ein oder anderen leeren Regal. Im Netz bekommt man gar den Eindruck, ganz Deutschland kaufe panisch alle Supermärkte leer: Bilder zum Thema Hamsterkäufe fluten die sozialen Netzwerke, viele davon machen sich darüber lustig.

Was treibt die Menschen dazu, haufenweise Vorräte anzulegen, obwohl Politik und Handel betonen, es gebe keinen Anlass für das Horten von Lebensmitteln?

Der Artikel erschien am 3. März 2020 bei tagesschau.de.

Der unsichtbare Feind

Stephan Grünewald, Psychologe und Geschäftsführer des Markt- und Medienforschungsinstituts rheingold, sieht die „Hamsterkäufe“ als eine Übersprungshandlung. „Die Menschen sind beim Coronavirus mit einer Bedrohung konfrontiert, die sie nicht sehen, riechen, schmecken können – mit einem unsichtbaren Feind.“ Das führe zu einer Erfahrung von Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit. „Die Hamsterkäufe sind ein Versuch, dem etwas entgegenzusetzen und sich wieder handlungsfähig zu fühlen“, sagt Grünewald im Gespräch mit tagesschau.de.

Auch die Hygienetipps, wie man sich vor einer Infektion schützen kann, wie Händewaschen, Niesetikette und Abstand halten, haben laut Grünewald nicht nur den erwiesenen praktischen Nutzen, sondern auch einen psychologischen Effekt: Sie geben den Menschen das Gefühl, der Bedrohung durch konkretes Tun etwas entgegensetzen zu können.

Doch auch, wer eigentlich nicht den Drang verspürte, Vorräte anlegen zu müssen, wird durch die Hamsterkäufe der Anderen verunsichert. „Wer erlebt, dass ringsumher die Leute panisch zum Regal laufen und Nudeln in den Einkaufswagen hieven, bekommt das Gefühl: Wenn ich jetzt nicht mitmache, stehe ich am Ende mit leeren Händen da“, sagt Grünewald. „Die Erregung breitet sich schneller aus als der Erreger.“

Angst, dass die Versorgung zusammenbricht?

Wie irrational diese Ängste sind, lässt sich schwer sagen. Zumal unklar ist, worauf sie sich konkret beziehen. Befürchten die „Hamsternden“, dass die Lebensmittelversorgung bald zusammenbricht? Die Tatsache, dass sich das lange Zeit von vielen verschmähte Dosenbrot jüngst wieder größerer Beliebtheit erfreut, deutet zumindest darauf hin.

Für diesen Fall gibt der Handelsverband Entwarnung: „Obwohl wir in einzelnen Lebensmittelgeschäften aktuell eine höhere Nachfrage nach länger haltbaren Produkten und Getränken sehen, ist die Versorgungslage bundesweit normal“, heißt es beim Handelsverband Deutschland. Die Lieferstrukturen seien effizient und gut vorbereitet, die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet. Sollten sich aber die Quarantänezonen in den Lieferländern ausweiten, könne es bei dem ein oder anderen Produkt kurzfristig zu Engpässen kommen.

“Belieferung der Märkte wurde angepasst”

Noch konkreter wird ein Sprecher der REWE Group: Trotz der bundesweit verstärkten Nachfrage nach lang haltbaren Lebensmitteln, Konserven und Drogerieartikeln gebe es keine Engpässe in der Warenversorgung. Die Frequenz der Belieferung der Märkte sei angepasst worden. „Anhand unserer digitalen Infrastruktur können wir quasi in Echtzeit sehen, was in den jeweiligen Märkten über die Scannerkassen gelaufen ist.“ Aus den mehr als 30 Zentrallagern, die die REWE Group bundesweit unterhält, könnten dann die entsprechenden Produkte geordert werden.

Wen allerdings lediglich die Sorge umtreibt, von jetzt auf gleich zu Hause in einer 14-tägigen Isolation festzusitzen, der erspart sich durch ein paar Vorräte im Keller auf jeden Fall Stress. Ohnehin raten unabhängig vom Corona-Virus Innenministerium und Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, immer genügend Vorräte im Haus zu haben, um etwa zehn Tage über die Runden zu kommen. Allerdings beziehen sie sich damit vor allem auf Situationen wie Stromausfälle, Überschwemmungen oder starken Schneefall.

Vorrat ja – horten nein!

Einen vernünftigen Vorrat für alle Fälle anzulegen, heißt aber nicht kiloweise Dosenananas, Fertiggerichte und Toilettenpapier zu horten. Was bei Lebensmitteln im schlimmsten Fall dazu führt, dass man später reihenweise Verdorbenes wegwirft, kann bei medizinisch notwendigen Produkten sogar schaden: Weil Privatpersonen offenbar zu Hauf Atemmasken und Desinfektionsmittel kauften, könnte es bei medizinischem Personal zu Engpässen kommen.

Dabei hat beides im Privathaushalt beziehungsweise bei nicht Infizierten keinen erwiesenen Nutzen. Gründliches Händewaschen ist zu Hause genauso effektiv wie Desinfektionsmittel. Das wiederum wird anderswo dringend gebraucht. Fachleute rufen deshalb dazu auf, es nicht zu horten, weil das zu einer künstlichen Verknappung führen könnte. „Medizinisches Personal braucht das, nicht unbedingt wegen des Coronavirus, sondern zum Kampf gegen andere Erreger und weil es im Klinikalltag schnell gehen muss“, sagt Iris Chaberny, Direktorin des Instituts für Hygiene am Universitätsklinikum Leipzig.

Wer versorgt mich bei Quarantäne?

Bei einer häuslichen Quarantäne, wie sie momentan bei Corona-Infizierten oder Kontaktpersonen angeordnet wird, besteht aber nicht wirklich die Gefahr einer mangelnden Versorgung. In aller Regel machen Angehörige und Freunde die Einkäufe für die Betroffenen. Um direkten Kontakt zu vermeiden, werden die Produkte vor der Tür abgestellt.

Falls jemand keine Unterstützung aus dem privaten Umfeld hat, sind die Gesundheitsämter beziehungsweise Kommunen zuständig. In der besonders von Corona betroffenen Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg beispielsweise hat sich ein Netz von ehrenamtlichen Helfern gebildet, die bei Bedarf infizierte Personen unterstützen. Auch das Deutsche Rote Kreuz habe angeboten, ein Fahrzeug und Personal für die Versorgung zur Verfügung zu stellen, sagt Fachbereichsleiter des Ordnungsamtes Helmut Görtz im Gespräch mit tagesschau.de. „Bislang ist bei uns aber noch keine solche Anfrage eingegangen.“

“‘Hamsterkäufe’ auch Signal für Ende des Hamsterrads”

Bei aller Sorge, die das Coronavirus mit sich bringt, sieht der Psychologe Grünewald in den „Hamsterkäufen“ aber auch das Zeichen für eine gewisse Faszination. Denn eine 14-tägige Quarantäne bedeute zwar einerseits, dass man eingesperrt ist, was natürlich niemandem gefalle. „Andererseits schwingt darin auch die Verheißung mit, mal zwei Wochen lang aus allen Zwängen raus zu sein, den Stress los zu sein und sich allein oder im Kreis der Familie den eigenen Interessen widmen zu können.“ So gesehen signalisierten die „Hamsterkäufe“ auch ein „temporäres Ende des Hamsterrades“.

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