Auf der rheingold-Couch – wie ein tiefenpsychologisches Interview wirkt

Der Journalist Sebastian Scheffel vom RedaktionsNetzwerk Deutschland hat im rheingold Institut die Seiten gewechselt – und sich zu seiner Zuversicht interviewen lassen. Hier sein Erfahrungs-Bericht:

“Was glauben Sie, wie wird die Welt in 30 Jahren aussehen? Was werden dann Ihre Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen sein? Und wenn Sie nun an Ihre ganz persönliche Antwort darauf denken – wie fühlen Sie sich? Sind Sie hoffnungsfroh, oder schauen Sie pessimistisch in die Zukunft? Vielleicht erschrecken Sie auch vor Ihrer inneren Antwort auf diese Zukunftsfragen: Habe ich das wirklich gerade gedacht? Vielleicht denken Sie einen Gedanken, der lange in die tiefsten Ecken des Gehirns abgeschoben war. Und wo er eigentlich auch hingehört: ein dunkler Ort für dunkle Gedanken.

Ich erlebe solche Momente normalerweise selten. Aber an einem Dienstag im Mai sitze ich an einem großen Konferenztisch und erschrecke gleich mehrfach vor meinen Gedanken. Denn der Platz am Tisch ist eigentlich eher ein Platz auf der Couch, hier stelle ich mich einem tiefenpsychologischen Interview. Das rheingold Institut, das sich auf solche Gespräche spezialisiert hat, will auf diese Weise die großen Fragen klären: Wie zuversichtlich blickt Deutschland in die Zukunft? Was macht den Menschen Hoffnung, was Angst?

Es gibt kein Richtig und kein Falsch

Anna Brand, Studienleiterin

Mit leichtem Herzklopfen trete ich durch die Tür des Instituts, gelegen in der Kölner Innenstadt. Dort nimmt mich eine freundliche junge Frau in Empfang. Anna Brand leitet das Projekt „Die Zuversicht der Deutschen in multiplen Krisenzeiten“. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen interviewen 35 Menschen für jeweils zwei Stunden, hinzu kommt eine große Onlinebefragung. In Auftrag gegeben hat die Studie die gemeinnützige Identity Foundation.

„Es ist für mich wichtig, dass du wirklich ganz viel beschreibst aus deinem Alltag. Alle Bilder, Erinnerungen, Situationen, die dir in den Sinn kommen. Und wenn du dein Leben beschreibst, ist auch klar, dass es kein Richtig oder Falsch gibt“, leitet Brand das Gespräch ein. Das sollte kein Problem sein, denke ich mir, schließlich verlange ich das als Journalist umgekehrt auch meinen Interviewpartnerinnen und -partnern ab.

Wecker klingelt zu einer ungeraden Uhrzeit, dann erst mal einen Blick auf Twitter werfen

Sebastian Scheffel

Und tatsächlich plaudere ich zunächst locker darauf los, erzähle auf Nachfrage von meinen Interessen (unter anderem gut kochen, essen und trinken), meiner Morgenroutine (Wecker klingelt zu einer ungeraden Uhrzeit, dann erst mal einen Blick auf Twitter werfen) und Struktur im Alltag (nie ohne Einkaufszettel aus dem Haus gehen). Auch auf die Frage nach meinen kurzfristigen Zielen fällt mir schnell etwas ein – das kenne ich schon aus Bewerbungsgesprächen. Ich frage mich, was die Erzählungen aus meinem Alltag für eine Studie zu Ängsten und Zuversicht der Deutschen beitragen sollen.

Als ich später die veröffentlichte Studie lese, wird mir klar, dass genau das der Punkt ist: „Die Wucht der Krisen ist für die Menschen schwer auszuhalten, weshalb sie auch in den Gesprächen lange nicht zur Sprache kommt“, heißt es dort. Stattdessen würden die Befragten schildern, wie gut sie doch ihr eigenes Leben meisterten. Krisen würden die Menschen aus ihrem Alltag versuchen zu verdrängen.

Ist es komisch, kein konkretes Ziel zu haben?

Sebastian Scheffel

Nach rund 40 Minuten stellt Brand die erste Frage, die explizit auf die Zukunft abzielt. Und die mich sogleich verunsichert. „Wenn du mal an die ferne Zukunft denkst – in 15, 20, 30 Jahren – was werden dann deine Pläne sein und die Themen, die dich umtreiben?“ Ich überlege, aber da ist kein konkreter Gedanke, an dem ich mich festhalten kann.

Ist es komisch, kein konkretes Ziel zu haben? Ich fühle mich ertappt, obwohl meine Interviewerin – wie eingangs gesagt – kein Richtig oder Falsch bewerten will. Saß ich bisher noch auf den Tisch gestützt ihr zugewandt, lehne ich mich jetzt mit verschränkten Armen zurück. Doch die Abwehrhaltung hindert Brand nicht an einer Nachfrage, scheinbar habe ich ihr Interesse geweckt: „Woher kommt das, dass du das nicht hast, vielleicht mal ganz komisch gefragt?“

„Das ist eine gute Frage. Vor allem weil wir gerade darüber gesprochen haben, dass ich für die nähere Zukunft ja durchaus sehr viel plane, ist es bei der ferneren Zukunft komisch. Ich lasse da viel auf mich zukommen“, antworte ich. Während ich das sage, wird mir die Antwort klar: „Vielleicht hängt das zusammen mit der Erfahrung der vergangenen Jahre, dass sich in der Welt unglaublich viel verändert. Und deshalb weiß ich nicht, ob es sich lohnt zu planen, was in 30 Jahren ist, weil es am Ende ohnehin anders kommt.“

Brand notiert etwas in ihren Block. Und mir wird klar: Diese Visionslosigkeit habe ich mir noch nie so bewusst gemacht. Ist das eine Form von Zukunftsangst? In der Studie des rheingold Instituts wird es später dazu heißen: „Vielen drängen sich Ohnmachtsgefühle auf. Das Gefühl, selbst einwirken zu können, ist vielen wieder abhandengekommen.“

Das Gespräch dreht sich jetzt um die großen Krisen: um die Corona-Krise, die zwar vorbei ist, aber möglicherweise nur ein Vorbote für weitere Pandemien war. Um den Krieg in der Ukraine, der in den ersten Tagen ein bislang gänzlich unbekanntes unangenehmes Gefühl in mir ausgelöst und Albträume beschert hat. Und natürlich um die Klimakrise, die noch bedrohlicher ist, weil sie für die Menschheit existenzbedrohend werden könnte.

Brand fragt mich, was ich glaube, wie sich die Gesellschaft dadurch verändern wird. Ich vermute, dass Selbstverständlichkeiten nicht mehr leistbar sein werden, wir sie dann als Luxus empfinden werden. „Außerdem wird es, glaube ich, schon auch gesellschaftliche Verwerfungen geben, wenn mehr Menschen durch die Klimakrise flüchten werden und das auf Widerstand stoßen wird. Das wird vielleicht eine Atmosphäre erzeugen, in der man noch weniger Verständnis hat für Mitmenschen.“

Während ich spreche, überlege ich, ob ich mich gerade in eine Dystopie hineinrede, oder ob ich das tatsächlich so meine

Sebastian Scheffel

Während ich spreche, überlege ich, ob ich mich gerade in eine Dystopie hineinrede, oder ob ich das tatsächlich so meine. Bevor ich zu einem Schluss kommen kann, höre ich die nächste Nachfrage: „Was wäre denn ein Worst-Case-Szenario, wenn sich das so entwickelt?“

Es ist der zweite Moment im Gespräch, in dem ich vor mir selbst erschrecke. Ich habe sofort ein Szenario im Kopf. „Mmh ja, man könnte schon sagen, dass im schlimmsten Fall vielleicht …“, versuche ich umständlich noch, die Antwort hinauszuzögern, „… dass es dann zu bürgerkriegsartigen Szenen kommt, weil wir nur noch ums Überleben kämpfen.“ Weil mir klar ist, dass sich das ungeheuerlich anhören muss, relativiere ich sofort: „Ob das tatsächlich passiert und sich so weit zuspitzt? Keine Ahnung. Es ist vielleicht nicht unrealistisch, aber es fühlt sich auch komisch an, das auszusprechen.“

„Der Wille zu Kompromissen fehlt, wodurch das Gefühl der Spaltung weiter wächst. Für viele wird mehr Aggressivität im Miteinander spürbar“

Zitat aus der Zuversicht-Studie

Ich hatte zwar immer klare Ideen, was sich gesellschaftlich im Einzelnen verändern könnte: Inflation, Erstarken der AfD, Ressourcenmangel. Aber konsequent zu Ende gedacht und offen ausgesprochen, wohin das führen kann, habe ich das noch nie. Nachdem das Interview zu Ende ist, frage ich Brand, ob meine düsteren Szenarien ein Einzelfall sind. Sie verneint, das ziehe sich durch alle Gespräche. „Der Wille zu Kompromissen fehlt, wodurch das Gefühl der Spaltung weiter wächst. Für viele wird mehr Aggressivität im Miteinander spürbar“, wird sie später in der Studie schreiben.

Die Zuversicht, die im Titel der Studie steht, hat im Gespräch bisher kaum Platz eingenommen, es ging fast ausschließlich um den Mangel an Zuversicht. Liegt das an mir? Nach mehr als einer Stunde klopft Brand ab, inwiefern ich in verschiedenen Lebensbereichen Hoffnung finde. Obwohl das Thema nun ein weniger schwieriges ist, fällt es mir nicht leichter, darüber zu sprechen. Es ist schwierig, etwas zu finden, was große Zuversicht vermittelt. Brand muss nun öfter Rückfragen stellen, meine Antworten fallen kürzer aus.

Erst nachdem wir länger suchend um verschiedene Themen gekreist sind, kann ich zwei Dinge ausmachen, die Hoffnung spenden. Zum einen sind es die vermeintlich kleinen Dinge: Zum Beispiel, wenn ich und andere Menschen sich trotz anfänglicher Widerstände doch dazu entscheiden, Vegetarier zu werden oder mehr Bahn als Auto zu fahren, um gegen die Klimakrise zu kämpfen. Zum anderen ist es die ganz große Perspektive: „Die Menschheit hat schon so viel durchgemacht und überstanden, das gibt ein Grundvertrauen, dass es auch in Zukunft so sein wird.“ Auch mit diesen Gedanken bin ich ein typischer Fall.

Das ist auch mein Gefühl: An diesem Konferenztisch kommen Deutschland und seine Zukunftsängste auf die Couch

Sebastian Scheffel

Die Studie beschreibt das zum einen als „Ablasshandel“: Menschen versuchen kleine Verhaltensanpassungen umzusetzen, zum Beispiel auf das Auto zu verzichten. Dadurch – so die Hoffnung – muss man sich weniger schuldig an der Klimakrise fühlen. Zum anderen nennt die Studie „Erlösungshoffnungen“ als Quelle von Zuversicht: Die Erlösung kann durch ganz unterschiedliche Dinge kommen, beispielsweise neue Technologien, Gott, die nächste Generation oder schlichtweg die menschliche Vernunft.

Als das Gespräch nach genau zwei Stunden zu Ende ist, fühle ich mich erschöpft. Brand erklärt das damit, dass bei solchen Gesprächen viel aufbreche. „Da ist so ein dicker Vorhang an Verdrängung, dass man erstmal nachbohren und sich mit dem Gesprächspartner tief reinarbeiten muss.“ Insofern fühle sich das Interview für manche Probandinnen und Probanden an wie eine Therapiesitzung. Das ist auch mein Gefühl: An diesem Konferenztisch kommen Deutschland und seine Zukunftsängste auf die Couch.