Deutschland auf der Couch

Visionen für die Zukunft

„Wir haben keine Visionen für die Zukunft mehr!“

Paradox: Einerseits geht es den meisten gut. Aber immer mehr Menschen haben das Gefühl: Die Zukunft wird schlimmer. Was ist los mit uns? Das fragte die Berliner Zeitung den Psychologen und Marktforscher Stephan Grünewald im Januar 2018.

Das Interview erschien am 7. Januar 2018 in der Berliner Zeitung.

Herr Grünewald, mit welcher Befindlichkeit starten die Deutschen ins neue Jahr?

Wir sind in einer paradoxen Situation. Einerseits geht es den meisten gut. Aber immer mehr Menschen haben das Gefühl: Die Zukunft wird schlimmer. Die Krisen, die uns umgeben, schwappen in unser friedliches Auenland hinein. Unser Grundproblem ist, dass wir keine Vision für unsere Zukunft haben. Das führt zu dem fast angstvollen Wunsch, das Hier und Jetzt so lange wie möglich zu stabilisieren.

Warum kommt da nicht mehr?

Wir Deutschen haben uns – von Mutter Merkel gepampert – in einer Rundumversorgung eingerichtet und eine Art Stillhalteabkommen mit den Regierenden geschlossen. Nach dem Motto: „Sorgt ihr für unseren Wohlstand, und wir fügen uns in euer alternativloses Diktum.“ Jetzt kommen wir an einen Punkt, wo das Ganze kippt.

In unserem Stillhalten fühlen wir uns zunehmend ohnmächtig. Viele Menschen fragen sich: „Können wir, wenn wir so weitermachen, dem Terror begegnen, dem Zerfall Europas oder Typen wie Erdogan oder Trump?“ Wir erleben eine Zeit des Erwachens. Die Deutschen spüren: Wir müssen aktiv werden, um aus der Ohnmacht herauszukommen.

Die Erklärung für Merkel-Müdigkeit?

Die ist Ausdruck eines Emanzipationsbegehrens. Aber die Bürger sind hin- und hergerissen. Sie schätzen Merkel weiterhin als Stabilisatorin. Sie steht für den Erhalt des Auenlandes, ist eine Art Raubtierdompteurin für die Putins, Erdogans und Trumps dieser Welt.

Welche Rolle spielte die Flüchtlingskrise?

Das war die erste Vertrauenserschütterung. Zum einen wegen des Kontrollverlusts. Zum anderen wegen der Frage: Wen liebt Mutter Merkel eigentlich mehr? Wer kriegt die Zuwendung, das Geld, die Sozialwohnungen – die eigenen oder die fremden Kinder? Der Mutter schiebt man alle Verantwortung zu. Da ist man fein raus statt selber mal zu schauen: Wie verändert sich die Welt? Und was muss ich selbst tun, um sie zu verstehen und mitzugestalten?

Kommt daher die Wut, die Sie in vielen Tiefeninterviews erleben?

Die Wut speist sich aus dem Gefühl, einer komplexen Welt, die kaum mehr zu verstehen ist, ohnmächtig gegenüberzustehen. Hinzu kommt, dass Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, die Eliten gucken auf sie herab, weil sie immer noch Diesel fahren, Fleisch essen, rauchen, Unterschichten-TV gucken, Angst vor Zuwanderung haben.

Eine gesellschaftliche Grundsolidarität wie in den 70er-Jahren, als die Eliten für den „kleinen Mann“ kämpften, gibt es nicht mehr. Stattdessen wenden sich die Eliten pikiert ab und geben den Menschen das Gefühl, nicht mehr satisfaktionsfähig zu sein. Das gilt insbesondere für die Grünen.

Was erwarten Sie von Eliten?

Dass sie aus diesem moralischen Dünkel aussteigen, den Menschen Wertschätzung zuteilwerden lassen. Bei aller Prosperität empfinden viele der von uns Befragten Deutschland auch als verwahrlostes Land mit maroden Schulen, kaputten Autobahnen, No-go-Areas und Gerechtigkeitsproblemen, weil viele vom Wohlstand kaum profitieren. Man wünscht sich, dass die Eliten aus ihrem Wolkenkuckucksheim aussteigen und sich dieser Alltagsthemen annehmen.

Wie stabil ist das Werte-Geflecht, das unsere Gesellschaft zusammenhält?

Es ist porös. Im Zustand der Rundumversorgung schwinden auch die Werte. Wir sind nicht dankbar dafür, dass es uns gut geht, dass wir sicher leben und unsere Meinung frei äußern können. Alles ist eine große Selbstverständlichkeit. Manchmal ist es fast hilfreich, wenn eine Krise heraufzieht. Das zeigt wieder, wie wichtig bestimmte Werte sind.

Sie beschreiben uns als erschöpfte Gesellschaft. Aber wir hatten nie so viel Freizeit.

Das kommt, weil wir die Erschöpfung im Grunde ganz gut leiden können. Denn im Hamsterrad blenden wir unsere Ängste, Probleme und Widersprüche aus. In längeren Pausen befällt uns dann wieder die Unruhe und treibt uns zurück in die besinnungslose Betriebsamkeit.

Wir brauchen Mut zur Muße

Um uns vor Fragen zu drücken, die wir uns stellen müssten?

Die Erschöpfung lenkt uns ab und gibt uns auch ein Befriedigungsgefühl. Ich nenne es Erschöpfungsstolz, im Gegensatz zum Werkstolz vergangener Tage. Heute hetzt man von einem Termin zum anderen, checkt Hunderte von Mails. Viele Arbeitsprozesse sind frikassiert, so dass man abends gar nicht mehr weiß, was man eigentlich gemacht hat. Nur die Erschöpfung belegt, dass der Tag wohl produktiv war.

Je erschöpfter wir sind, desto stolzer können wir sein. Das ist ein Teufelskreis, der in Richtung Burn-out führen kann. Aber solange wir erschöpft sind, sind wir nicht erfinderisch. So lange fehlen die Visionen und die Ideen für unsere eigene Zukunft und die Zukunft des Landes.

Und die Politiker?

Die Politiker sind teilweise auch erschöpft. Denken Sie nur an die Jamaika-Sondierungsrunden, das Verbeißen in Details und an die ständigen Umfragen, die die Politiker vor sich hertreiben. Manchmal wünsche ich mir die Beschaulichkeit der Bonner Republik zurück, wo man mit dem politischen Gegner mal in Ruhe ein Bier trinken konnte. Erst in einer solchen entschleunigten Verfassung entstehen die guten Ideen.

Die Lösung für uns?

Wir brauchen den Mut zur Muße. Aber damit meine ich nicht den Wellness-Urlaub – der sorgt nur dafür, dass ich bald noch erschöpfter sein kann – sondern eine unverplante Zeit, in der man seinen Gedanken freien Lauf lässt und seinen Träumen nachspüren kann. So können wir herausfinden, was wir wollen und wohin es uns drängt. Im Hamsterrad kann nichts Neues entstehen.

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