Webinar Krisenupdate

Webinar Krisenupdate

Das Gespenst des Ungewissen – so blicken die Menschen in Deutschland in den Krisenherbst

Das Kölner rheingold Institut ist in seinem Krisen-Update mit Tiefeninterviews den Ängsten und der Krisenwahrnehmung der Deutschen auf den Grund gegangen.

Die von den Krisen kräftig durchgerüttelten Deutschen befinden sich seelisch in einer beunruhigenden Übergangsphase. Inflation, Preisexplosionen, Krieg und Erderwärmung ballen sich zu einer Drohkulisse, die immer mehr im Alltag spürbar wird. Während das auf Tiefenpsychologie spezialisierte Kölner rheingold Institut kurz nach Ausbruch des Krieges eine Schockstarre konstatierte, die sich im späteren Frühjahr zu einem „Kriegs-Tinnitus“ gewandelt hatte – einer weitgehend verdrängten Kriegsangst – stehen die Deutschen nun am Beginn einer neuen Phase. Auch wenn die meisten Menschen noch versuchen, die sommerliche Leichtigkeit trotz anbrandender Probleme zu konservieren, so ist doch eine deutliche Veränderung im Vergleich zum Frühsommer zu verzeichnen.

„Es ist gerade diese diffuse Bedrohungslage, die ein großes Angstpotenzial zur Entfaltung bringt“, sagt Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Kölner rheingold Instituts, das in regelmäßigen Abständen das Lebensgefühl und die Konsum-Stimmung der Deutschen in einem „Krisen-Update“ tiefenpsychologisch untersucht.

1. Diffuses Angstpotential mit vier Unbekannten

Die Unbestimmtheit ereignet sich in vierfacher Hinsicht. Erstens sind das Ausmaß und die Dauer der Krisen den meisten Befragten nicht klar: Sitzen wir im Winter in lauwarmen oder eiskalten Wohnungen? Greift ein in die Defensive gedrängter Putin zu Atomwaffen? Gibt es vielleicht einen Strom-Zusammenbruch, der dramatische Kettenreaktionen nach sich zieht? Je ungewisser die Prognosen, desto drastischer die Eskalations-Sorgen.

Zweitens verschränken sich in der Wahrnehmung die unterschiedlichen Krisenherde, was dazu führen könnte, dass sich die Krisen gegenseitig verstärken, aber auch relativieren werden. Der Krieg in der Ukraine kann die Energiekrise noch weiter zuspitzen. Die nächste Corona-Welle macht das Ausharren in den kalten Wohnungen schier unerträglich. Umgekehrt kann aber auch die Klimakrise den Wunsch nach einem warmen Winter begünstigen. Die schrecklichen Kriegsgeschehnisse wiederum können die Angst vor Corona relativieren.

Drittens ist der extrem trockene Sommer ein angstmachendes Sinnbild bzw. ein unbestimmter Vorbote für das, was die Menschen vielleicht an Mangel im Herbst und Winter erwartet. Die Dürre löst zusätzlich Versorgungs-Sorgen aus und rückt den Klimawandel als apokalyptisches Bedrohungsszenario in den Bereich des Möglichen. Der Rhein als austrocknende Lebensader wird darüber hinaus zum seelischen Bild dafür, dass der Fluss des Lebens versiegen kann, die versteppten Wiesen künden von einer Dürrephase, die viele Lebensbereiche ergreifen und unsere Lebensrealität fundamental verändern könnte.

Viertens erleben die Menschen aber auch die eilig geschnürten Entlastungspakete als unbestimmt – einerseits, weil für viele die Krisenbelastungen derzeit noch nicht konkret in ihrem Alltag angekommen sind, andererseits, weil sie noch nicht genau ermessen können, was diese Pakete für sie persönlich bedeuten und ob sie tatsächlich in der Lage sein werden, das Ausmaß der möglichen Belastungen abzufedern.

2. Die Politik bewegt sich im Spagat zwischen Übergangshelfer in der Krise und diffusen Krisen-Projektionen

Die Politik hat es derzeit schwer in dieser Herbstgleichung mit vier Unbekannten bzw. Unbestimmten Vertrauen aufzubauen. Je nach individueller Krisenwahrnehmung wird ihr vorgeworfen, die Probleme zu dramatisieren oder sie zu bagatellisieren. Ein Teil der Wählerinnen begegnet den Politikern mit diffusen Erlösungs-Hoffnungen, die allerdings – wie im Fall von Robert Habeck – schnell in Enttäuschung oder Häme umkippen können, wenn die vermeintlichen Heilsbringer keine überzeugenden und belastbaren Lösungen bieten. Ein anderer Teil der Wähler*innen versucht der Unbestimmtheit zu entkommen, indem sie die Politik mit trotziger Bestimmtheit zum Sündenbock erklärt: „Wir haben leider nur noch völlig inkompetente Politiker, die uns jetzt selbst verschuldet in die Krise gefahren haben. Mit einer anderen Russlandpolitik hätten wir all diese Probleme nicht“, beklagt ein Wähler in der Exploration.

Ein Großteil der Wähler akzeptiert jedoch die Politik als Übergangshelfer. Auch, wenn die Zeitenwende für sie oft noch nicht konkret erfahrbar ist, stellen sie sich auf eine Zeit ein, die ihnen viele Opfer und Umstellungen abverlangen wird.

3. Vier unterschiedliche Krisenwahrnehmungen in der Bevölkerung forcieren die gesellschaftliche Entzweiung

Die Zuspitzung der Krise wird die gesellschaftliche Entzweiung forcieren. Bereits jetzt wird in den Tiefeninterviews deutlich, dass die Auswirkungen der Krise ganz unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden.

Ein Teil der Befragten ist verzweifelt und begegnet dem Herbst mit einer resignativen Ohnmacht. Sie sehen sich bereits jetzt außerstande, die gestiegenen Abschlagszahlungen für Strom und Gas oder die hohen Spritkosten zu stemmen. Die Sparappelle der Regierung erleben sie als zynisch, da sie für sich keinerlei Sparpotential mehr erkennen. Sie sehen sich in ihrer Existenz akut gefährdet und fürchten, dass sie ihre Wohnung oder ihren Job verlieren werden.

Ein zweiter Teil hat große Abstiegsängste. Die Krise ist bereits in ihrem Alltag angekommen und sie fürchten, dass sie sich Reisen oder Hobbys bald nicht mehr leisten können. Um den Kopf über Wasser zu halten, strampeln sie sich buchstäblich ab. Durch partiellen Verzicht, eisernes Sparen, durch Überstunden oder Nebenjobs versuchen sie die finanzielle Not zu lindern und ihren Lebensstandard halbwegs zu stabilisieren.

Eine kleine Gruppe am oberen Rand der Gesellschaft versucht sich weitgehend der Krise zu entheben. Sie probieren, die unbestimmten Krisensignale weitgehend auszublenden und sich selbst immer wieder darin zu bestärken, dass sie sich aus finanziellen Gründen das Sparen sparen können. Mitunter verdrängen sie die Krisenanzeichen, indem sie überkompensieren. Durch verstärkten Konsum oder unbändige Reiselust wollen sie sich das beruhigende Gefühl vermitteln, die Fülle des Lebens weiterhin voll auskosten zu können.

Viele Befragten in der oberen Mitte erleben die Krise als Drohkulisse, fürchten jedoch keinen massiven Einbruch ihres Lebensstandards. Sie haben die Zuversicht, dass ihre Ersparnisse oder ihr Einkommen ausreichen werden, um den Herbst und Winter unbeschadet zu überstehen. Je mehr sich die unbestimmten Krisen- und Kriegsfolgen in Ereignissen und Teuerungen manifestieren, desto größer wird auch in dieser Gruppe der Wunsch nach eigener Stabilisierung, Selbstwirksamkeit und angstreduzierenden Umgangsformen. „Das Leben ist für diese Menschen nicht nur zu einem finanziellen, sondern auch zu einem seelischen Balance-Akt geworden“, sagt Grünewald. Dieser Gruppe ist die gesellschaftliche Solidarität sehr wichtig. Sie wollen sich und ihrem Umfeld zeigen, dass sie sich flexibel gegen Krisen wappnen können, indem sie durchaus sparen oder sich partiell einschränken können.

4. Sechs Bedeutungskontexte des Sparens können die Sparbereitschaft fördern

Für diejenigen, für die das Sparen keine existentielle und materielle Notwendigkeit ist, kann es mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden, die dann auch die Sparbereitschaft steigern können.

  • Weniger ist mehr“ soll das Leben einfacher und entschleunigter machen. Der mitunter schon in der Corona-Zeit eingeübte partielle Verzicht soll ein Baustein zu einem bewussteren Leben sein.
  • Das Sparen als Ausdruck der Solidarität und deutscher Autonomie soll einen Beitrag für den Zusammenhalt in der Gesellschaft oder Widerstand gegen Putins Angriffskrieg leisten. Vor allem die Füllung der Gasspeicher wird dabei als Gradmesser des Zusammenhalts erlebt.
  • Das smarte Sparen – etwa durch den Umstieg auf Handelsmarken – ist Ausdruck der persönlichen Lebenskunst. Man ist stolz darauf, weniger Geld auszugeben, ohne dabei substanzielle Einbußen in Kauf nehmen zu müssen.
  • Das beruhigende Sparen wird zu einer Challenge, die einem in der Krise das Gefühl gibt, stets die Kontrolle bewahren zu können. Hilfreiche Features wie ein Haushaltsbuch oder Ausgaben-Apps vermitteln Selbstwirksamkeit.
  • Das spartanische Sparen, soll nach dem Vorbild der antiken Spartaner die persönliche oder gesellschaftliche Resilienz und Widerstandskraft stärken. Verzichtsleistungen oder kaltes Duschen erscheinen dabei als Akt der persönlichen Abhärtung und Krisenfestigkeit.
  • Das moralische Sparen macht die persönliche Einschränkung zu einer vorbildlichen Tugend. Die eigene Sparleistung wird dabei zum stolzen Gradmesser der persönlichen Wertschätzung und Selbsterhöhung. Desto mehr Sparwillige ihren Verzicht moralisch überhöhen und zu Sparwächtern mutieren, desto größer wird die Reaktanz der Trotzigen sein, die das Sparen und die Krise als Ausdruck einer fehlgeleiteten Politik betrachten.

Untersuchungs-Design:

Mit dem rheingold Krisen-Update untersucht das auf tiefenpsychologische Methoden spezialisierte Kölner rheingold Institut regelmäßig die Stimmung der Deutschen seit dem Beginn der Corona-Krise und ergänzt damit seine fortlaufende Forschung um gezielte aktuelle Fragestellung. Besonders seit dem Ausbruch des Krieges wurden wegen der äußerst dynamischen Situation die Forschungs-Abstände verkürzt. Für das Krisen-Update im September wurden 30 Proband*innen jeweils zwei Stunden tiefenpsychologisch befragt, flankiert von Erkenntnissen aktueller Studien. Insgesamt werden im rheingold Institut jährlich rund 5.000 Menschen zu verschiedenen Themen interviewt und damit sinnbildlich auf die Couch gelegt.


Die vier Phasen der Krisenstimmung seit Kriegsbeginn

Unsere tiefenpsychologischen Krisen-Updates zeigen, wie rasant sich die Befindlichkeit der Menschen seit Kriegseintritt verändert hat:

Phase 1: Schockstarre und Solidaritätsbekundungen

Anfang März befanden sich die Bürger in einer Art Schockstarre. Fassungslos erlebten sie wie eine Kriegswirklichkeit mit einem unvorstellbaren Eskalationspotential in ihren Alltag einbrach. Ihrer anfänglichen Ohnmacht versuchten sie zu entkommen durch permanentes Updaten in der Dauer-Nachrichten-Schleife, durch Hilfsbereitschaft und Solidaritäts-Bekundungen oder durch private Ablenkungs-Manöver.

Phase 2: Kriegsausblendung und Normalitätsbeschwörung

Bereits im Mai veränderte sich die Seelenlage gravierend. Das Kriegsgeschehen wurde seitdem weitgehend verdrängt, zugunsten einer Normalitäts-Beschwörung. Der Konsum von Nachrichten ist bei vielen drastisch gesunken. Vor allem die erschütternden Bilder vom Kriegsgeschehen werden gemieden. Beim Small Talk redet man jetzt wieder lieber über Corona als über den Krieg. Der Krieg bleibt dennoch als eine Art zermürbender Kriegs-Tinnitus im Hintergrund spürbar. Übertönt wird dieser Tinnitus durch verschiedene Strategien der Selbstbeschwichtigung und Alltagsstabilisierung.

Phase 3: Sommerpause der Probleme

Die Inflation und die Gaskrise verlagern zudem seit dem Frühsommer die Aufmerksamkeit auf die heimischen Probleme, die jedoch bei den meisten Menschen seelisch noch nicht durchschlagen. Noch sind die Tanks halbwegs gefüllt. Hohe Energiepreise und kalte Wohnzimmer sind noch eine ferne Drohkulisse und nicht real im Alltag angelangt. Die Energetisierung wird derzeit vor allem in der Selbstvergessenheit und Hitzigkeit des Sommers gesucht, in dem Wunsch nach unbeschwerten und ausgelassenen Momenten zu erleben.

Phase 4: Deutsche vor dem Krisenherbst – das Gespenst der Unbestimmtheit

Die Deutschen befinden sich seelisch in einer beunruhigenden Übergangsphase. Die Unbestimmtheit der Bedrohungslage entfaltet ein großes Angstpotenzial, dem mit verschiedenen Stabilisierungs-Versuchen entgegengewirkt wird.

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