Zukunftsstudie 2021: Wie Deutsche in die Zukunft blicken

Wie Deutsche in die Zukunft blicken

Deutschlands Zukunft zwischen No-Future-Modus und Gestaltungskraft im kleinen Kreis

Zwei Drittel der Deutschen blicken ängstlich auf die gesellschaftliche Zukunft. Mangelndes Vertrauen in Staat und Institutionen sowie die Angst vor gesellschaftlicher Spaltung forcieren den Rückzug in private Nischen. Es wächst aber auch die Bereitschaft, allein oder mit Gleichgesinnten für eine lebenswerte Zukunft tätig zu werden. Das sind zentrale Erkenntnisse einer repräsentativen und tiefenpsychologischen Untersuchung des Kölner rheingold instituts in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Stiftung für Philosophie Identity Foundation in Düsseldorf.

„Ich sehe in diesem Jahrhundert die Menschen vor riesigen Problemen. Dürre,
Hunger, Ressourcen-Krieg, Migrationsbewegungen in der ganzen Welt.“

(weiblich, 28 Jahre, Hamburg)

Durch die Allgegenwart schwerer Krisen ist die Bevölkerung verunsichert, das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist fundamental erschüttert: Die Mehrheit der Deutschen befindet sich in einem „NoFuture“-Modus. Gesellschaftlichen Herausforderungen und anstehenden Umbrüchen begegnet eine Mehrheit mit einer resignativen Grundhaltung. Sie glaubt nicht daran, dass die großen Probleme unserer Zeit gelöst werden können, die Leistungsfähigkeit des Staates und die Zukunftschancen Deutschlands werden sehr skeptisch beurteilt. Das Vertrauen, dass Staat, Politik, Institutionen und Parteien die Krisen lösen können, ist erodiert: Nur 26 Prozent stimmt das Wirken von Politik und Parteien optimistisch für die Zukunft. Die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Mehrheit: „Deutschland steht vor einem Niedergang“ (61 Prozent) und „durch Krisen wie Corona und den Klimawandel stehen uns drastische Veränderungen bevor“ (88 Prozent).

Viele Bürger*innen befinden sich in einem akuten Machbarkeits-Dilemma. Sie erkennen die großen Zukunftsprobleme, haben aber keine Idee, wie sich diese Jahrhundert-Herausforderungen bewältigen lassen. Daher ziehen sie sich zunehmend in ihr privates Schneckenhaus oder ihre persönlichen Nischen zurück. „Die Menschen verschanzen sich in kleinen Wirkungskreisen mit Gleichgesinnten und versuchen in ihren persönlichen Umfeldern zu retten, was noch zu retten ist“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des auf tiefenpsychologische Forschung spezialisierten rheingold Instituts.

Die globale, europäische oder gesamtdeutsche Perspektive wird dabei ersetzt durch eine neue Selbstbezüglichkeit. Das eigene Ich, die Familie oder das unmittelbare soziale Umfeld stehen im Fokus. Private „Nischen-Projekte“, das Kümmern um die eigene Welt und das Streben nach dem persönlichen kleinen Glück stehen in der Folge hoch im Kurs. Optimismus für die Zukunft speist sich eher aus dem Glauben an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten (79 Prozent), der eigenen Familie (79 Prozent) und dem persönlichen Umfeld (81 Prozent).

Der Glaube an den vereinenden Staat und Parteien schwindet. Die größte Zukunftsangst betrifft den sozialen Klimawandel mit seiner fortschreitenden Polarisierung und dem Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Das während der Corona- und Klimakrise erlebte Regierungshandeln wurde als unzulänglich erlebt. Dies trägt zu einem verunsicherten und teils resignierten Verhältnis zur Politik bei. Zwar sehen viele Befragte gute Voraussetzungen für eine individuell erfolgreiche Gestaltung des Lebens in Deutschland (67 Prozent), aber das Vertrauen in den sozialen Zusammenhalt erodiert zunehmend: 83 Prozent haben Angst vor einer gesellschaftlichen Spaltung, 90 Prozent beobachten eine immer stärker werdende soziale Spreizung in Arm und Reich und 91 Prozent nehmen eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft wahr.

Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon
„schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss.

Auch im Hinblick auf die konkreten privaten Zukunfts-Strategien zeigen sich bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen differenzieren lassen. Das Spektrum reicht von den Eingekapselten, die Zukunftsfragen am liebsten ausblenden oder die Vergangenheit verklären, über die Tribalisten, deren Aktionsradius in der Nachbarschaft oder im Verein endet, bis hin zu den Missionierenden, die sich einer weltrettenden Ideologie wie zum Beispiel dem Veganismus verschreiben.

Eine Aufbruchs-Stimmung keimt im Kleinen – ein Drittel arbeitet auf eine bessere Zukunft hin

Im Kleinen zeigt sich jedoch auch eine hoffnungsstiftende Graswurzel-Mentalität. Im eigenen Schaffen erleben viele Befragte Selbstwirksamkeit und Fortschritte. Aufbruchsstimmung, Zukunftselan und Gestaltungswille zeigt sich bei einem Drittel der Befragten im Anpacken in der eigenen Lebenswelt. Viele entwickeln das Gefühl, selbst etwas beitragen zu können und eine bessere Welt von unten zu fördern. Nachbarschaftliche Initiativen, veränderte Ernährungs- und Konsumgewohnheiten, soziale und ökologische Netzwerke oder post-kapitalistische Geschäftsmodelle finden immer mehr Aufmerksamkeit in der Welt der Befragten.

Die Landschaft dieser „Anpacker“ ist noch sehr heterogen in ihren Themen, Zielen und ihrem Lifestyle. Obwohl eine signifikante gesellschaftliche Gesamtströmung noch nicht zu erkennen ist, zeigt sich Zukunftsoptimismus im partikularen Rahmen und mit nachhaltigen Perspektiven. Dass diese vielen kleinen Pflänzchen eines neuen Gestaltungswillens in diesem Jahrzehnt zusammenwachsen könnten, das ist gegenwärtig die große Hoffnung eines ansonsten ernüchternden Bildes der Zukunftserwartung der Deutschen.

„Die Aussichtslosigkeit, die viele Menschen empfinden und das mehrheitlich beklagte politische Versagen haben wir bereits in früheren unserer Studien festgestellt“, sagt Paul J. Kohtes, Gründer der Philosophie-Stiftung Identity Foundation. „Womöglich stehen wir vor einem sehr grundsätzlichen gesellschaftlichen Perspektivwechsel und die Idee institutioneller Lösungen von oben ist ein Auslaufmodell. Interessant ist, dass inzwischen ein Drittel der Bevölkerung im Spirituellen Ermutigung findet, nicht als Weltflucht, sondern als Antrieb, sich dem Leben und seinen Herausforderungen tatkräftig zuzuwenden“, so Kohtes.

„Wir erleben eine Zeiten-Wende“, bekräftigt Grünewald. „Diese Studie beschreibt den Geist, die Unsicherheiten, die Regressions- und Progressions-Kräfte einer Übergangszeit, in der sich unsere Gesellschaft massiv verändern wird.“ Dabei sei noch offen, ob die Tendenzen zu Rückzug und weiterer Parzellierung gestärkt werden oder die Kräfte des gesellschaftlichen Zusammen-Wachsens und der Überwindung von Trennlinien durch das Aufgreifen gemeinsamer Herausforderungen.

Zur Stichprobe und Methode der Studie:

Im Rahmen der qualitativen Zukunfts-Studie wurden jeweils 64 Wähler*innen in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews befragt. Bei der Auswahl der Proband*innen wird darauf geachtet, dass Parteipräferenzen und soziodemographische Strukturen (Geschlechter, regionale Verteilung, Altersverteilung, Bildung und Beruf) möglichst genau abgebildet werden. Die Tiefen Explorationen werden von einem fünfköpfigen Psycholog*innen-Team durchgeführt und analysiert. Untermauert wurden die Erkenntnisse durch eine deutschlandweit repräsentative quantitative Befragung (n = 1000).

Über rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen:

rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung. Das Institut hat sich mit seinen rund 50 festen Mitarbeitern und 140 freien Auftragnehmern – überwiegend Diplom-Psychologen – auf tiefenpsychologische Kultur-, Markt- und Medienforschung spezialisiert. Jahr für Jahr liegen bei rheingold rund 5.000 Frauen und Männer „auf der Couch“. Dabei analysieren die Wissenschaftler auch die unbewussten seelischen Einflussfaktoren und Sinnzusammenhänge, die das Handeln eines jeden Menschen mitbestimmen.

Über die Identity Foundation:

Die Identity Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie und realisiert Projekte zu Fragen der Identität. Bisherige Forschungsthemen waren unter anderem die Entwicklung von Eliten, das Selbstverständnis der Deutschen und Aspekte der persönlichen und spirituellen Entfaltung des Menschseins. Seit 2014 ist die Stiftung Kooperationspartner der phil.cologne, dem jährlichen größten deutschen Philosophie-Festival. Hier betreut sie eine eigene Salon-Reihe unter dem Titel „Grenzgänge der Philosophie“.

Hier finden Sie den Download der kompletten Studienergebnisse:

Die Ergebnisse im Detail

Krisenpermanenz bremst Aufbruchs-Stimmung

Spricht man mit Bürgerinnen und Bürgern über ihre Vorstellungen von der Zukunft, dann ist von Aufbruchs-Stimmung und Zukunfts-Optimismus wenig zu spüren. Zwei Jahrzehnte Krisenpermanenz haben zu einer tiefen Verunsicherung der Menschen hierzulande geführt. Viele fühlen sich in ihren ideellen Grundfesten erschüttert, das Vertrauen in die Institutionen und die Parteien schwindet, der weltanschauliche Orientierungsrahmen löst sich auf und die Sorge der Menschen vor einer weiteren Parzellierung und Polarisierung der Gesellschaft wächst.

„Ich gehöre zu der Generation, die mit den Entscheidungen von heute leben muss. Wenn wir so weiter machen, ist es bald vorbei mit uns.“

(weiblich, 26 Jahre, Münchener Umland)

Corona forcierte Zukunftsängste und stärkt Selbstbezüglichkeit

Die Corona-Krise hat die Verunsicherung der Menschen weiter zugespitzt und die Zukunftsängste noch verstärkt. Denn fast alle haben die Erfahrung gemacht, dass ihr gewohntes Leben auf den Kopf gestellt wurde und der Rhythmus ihres Alltags aus dem Takt geraten ist. Freundschaften oder Beziehungen sind zerbrochen wegen sich vertiefender ideologischer Gräben im Hinblick auf den „richtigen“ Umgang mit dem Virus oder der Impfung. Zudem wurden viele Entscheidungen der Politik in der Corona-Krise als unzulänglich oder unangemessen erlebt.

„Die Pandemie hat gezeigt, dass unser Staat uns nicht vor allem schützen kann. Wir sind wieder mehr auf uns selbst angewiesen.“

(männlich, 29 Jahre, München städtisch)

Die Zukunfts- und Weltoffenheit der Menschen ist stark geschrumpft. Viele denken nicht mehr in globalen oder europäischen Dimensionen. Selbst die nationale Perspektive ist aus dem Blick geraten, denn der Fokus der Menschen gilt vor allem dem persönlichen Nahbereich, der eigenen Familie oder dem eigenen Selbst. Nur 5 Prozent der quantitativ Befragten engagieren sich selbst aktiv gesellschaftlich (Demos, Umweltverbände etc.), 41 Prozent konzentrieren sich auf ihren persönlichen Nahbereich und leisten im Alltag einen Beitrag, zum Beispiel mit nachhaltigem Konsum oder Nachbarschaftshilfe.

Sinnbildlich haben sich viele Deutsche in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen. In ihrem kleinen Wirkungskreis umgeben sie sich mit Gleichgesinnten, hier verspüren sie Sicherheit und Selbstgewissheit.

„Unser Zuhause ist die Arche Noah. Das eigene Heim geht nicht unter.“

(Proband im Tiefeninterview vor der Flutkatastrophe)

Das spiegelt sich auch in den Zahlen der repräsentativen Erhebung: Die Mehrheit nimmt eine gestiegene Selbstbezüglichkeit der Menschen (87 Prozent) wahr und setzt Hoffnungen in eine individuell gute Zukunft (64 Prozent). Daher steht auch die eigene Zukunftssicherung (Rente und soziale Absicherung) an erster Stelle der persönlichen Wunschliste (70 Prozent), der Wunsch nach einer intakten Umwelt nur auf Platz zwei (50 Prozent).

Fundamentales Machbarkeits-Dilemma erzeugt Zukunfts-Vakuum

Die Auseinandersetzung mit der Zukunft stürzt die Menschen in ein fundamentales Machbarkeits-Dilemma. Jenseits ihrer selbstgestalteten Rückzugsräume begegnen sie in der Welt kaum zu bewältigenden Problemen: Die Delta-Variante ist auf dem Vormarsch, das Beispiel Afghanistan zeigt, wie fundamentalistische Weltbilder die Werte des Westens aushebeln und Flut sowie Waldbrände machen sichtbar, dass der Klimawandel unerbittlich näher rückt.

„Ich sehe in diesem Jahrhundert die Menschen vor riesigen Problemen. Dürre, Hunger, Ressourcen-Krieg, Migrationsbewegungen in der ganzen Welt.“

(weiblich, 28 Jahre, Hamburg städtisch)

Die Menschen haben das Gefühl, dass sie global und national (Rente, bezahlbarer Wohnraum, Schulden, Pflegenotstand) vor Jahrhundert Herausforderungen stehen. Allerdings haben die meisten keine Idee, wie sie diese gewaltigen Probleme lösen können und sie erleben auch die Politik als weitgehend planlos. Die Zukunft erscheint als ein riesiges Vakuum, das mal mit paradiesischen Erlösungs-Hoffnungen, mal mit finsteren Untergangs Fantasien gefüllt wird:

„Ich sehe viel mehr Grün, bezahlbare Wohnungen, keine Brennpunkte, mehr Tiere. Wir fliegen nicht mehr. Für jeden ist gesorgt. Vielleicht gibt es ein Grundeinkommen, weil die Maschinen für uns arbeiten. Jeder kann sein, wie er ist, es ist allen völlig egal.“

(weiblich, 26 Jahre, München)

„Wenn die Klimakatastrophe eintritt, müssen wir in Europa wie unter einer Kuppel leben. Eine Käseglocke, damit die Luft zum Atmen noch da ist. Drum herum herrscht Elend, Dürre, alles ist voller Staub und verdunkelt.“

(männlich, 18 Jahre, Schüler, Köln)

Angst vor dem sozialen Klimawandel: Vertrauen in den sozialen Zusammenhalt schwindet

Zwar sehen viele Befragte immer noch gute Voraussetzungen für eine individuell erfolgreiche Gestaltung des Lebens in Deutschland (67 Prozent), aber das Vertrauen in den sozialen Zusammenhalt erodiert zunehmend: 83 Prozent haben Angst vor einer gesellschaftlichen Spaltung, 90 Prozent beobachten eine immer stärker werdende soziale Spreizung in Arm und Reich und 91 Prozent nehmen eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft wahr. Die Förderung sozialer Gerechtigkeit und der Gemeinwohlinteressen wurden mit 89 Prozent am häufigsten genannt, wenn es um die wichtigsten Aufgaben der Politik geht.

Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon „schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss. Auch im Hinblick auf die konkreten privaten Zukunfts-Strategien zeigen sich bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen differenzieren lassen.

Sechs Zukunfts-Strategien im Spektrum von Regression und Progression

Im Hinblick auf konkrete private Zukunfts-Strategien zeigen sich bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen differenzieren lassen:

Die Eingekapselten forcieren den Rückzug und verschanzen sich in Selbstbezüglichkeit oder in symbiotischen Lebensformen, die nicht in Frage gestellt werden. Die großen Zukunftsfragen blenden sie rigoros aus, weil sie ihren persönlichen Status quo erhalten wollen. Mitunter neigen sie zu einer starken Idealisierung der eigenen oder der deutschen Vergangenheit.

Die Familiären haben in der Krise ihren verwandtschaftlichen Rückhalt gestärkt. Ihre Zukunftsvorstellungen beziehen sich hauptsächlich auf die Stabilisierung oder den Ausbau ihrer Kern-Familie. Eine größere Wohnung, Eigentum, die Bildung der Kinder oder Reisen bestimmen ihren Lebenshorizont.

Die Tribalisten forcieren ein Zusammenwachsen auf gesellschaftlicher Ebene und engagieren sich mit Gleichgesinnten lokal. Die Umsetzung ihrer Projekte auf Vereinsebene oder im Nachbarschaftsverbund gibt ihnen das Gefühl, im Kleinen die Zukunft gestalten zu können.

Die Selbst-Ermächtiger verbinden die Zukunft vor allem mit ihrem persönlichen Werdegang und ihren Entwicklungs- oder Karriere Möglichkeiten. Sie haben in der Vergangenheit (als Migranten oder Aufsteiger) die Erfahrung gemacht, dass sie durch Ehrgeiz oder das Vertrauen in ihre Fähigkeiten ihr Schicksal wenden können. An die Stelle eines Gott- oder Staatsvertrauens tritt das Vertrauen in das eigene Potential, das sich entfalten lässt, wenn man optimistisch und veränderungsbereit ist.

Fortschritts-Illusionisten beschwichtigen das Machbarkeits-Dilemma mit der Hoffnung, dass die technologische Entwicklung die großen Herausforderungen lösen wird. Das gibt ihnen den (moralischen) Freiraum, ihr weiteres Leben ungebremst zu genießen. Zukunft bedeutet daher für sie vor allem die Entfaltung ihrer eigenen Träume.

Die Missionierenden finden einen Anpack an die Zukunft, indem sie sich einer weltrettenden Idee verschreiben. Sie ernähren sich vegan, verzichten auf Reisen oder setzen auf Krypto-Währung. Ihnen ist es wichtig, in diesen originären Bereichen eine Vorbild-Funktion zu übernehmen und andere von ihrer Haltung zu überzeugen.

Eine Vorform der Missionierenden findet sich zunehmend bei Jugendlichen im Umgang mit ihren Eltern, zu denen sie meist ein gutes Verhältnis pflegen. Da die Jugendlichen keine offene Revolte riskieren, haben sie eine subtile Art der Umerziehung entwickelt – sie setzen neue Standards in nachhaltiger Lebensweise oder gendergerechter Sprache und versuchen so im familiären Umfeld Vorrausetzungen für eine bessere Zukunft zu schaffen. Die Kehrseite des neuen Erziehungsmodells ist jedoch eine immer stärkere Delegation der Zukunftsgestaltung von den Eltern an die junge Generation.

Der Umbruch als Chance: Erweiterte Selbst-Wirksamkeit, die Kraft authentischer Neo-Gemeinschaften und die Lust am Zusammen-Wachsen

Veränderungs-Druck (88 Prozent) und ein pessimistisches Zukunftsbild (76 Prozent) zeigen sich zwar deutlich. Dennoch werden die Krisen auch als Chance wahrgenommen (80 Prozent). Denn Corona und die Lockdown-Erfahrungen haben auch zu einer neuen Form der Selbst Wirksamkeit geführt. Angespornt durch die äußeren Beschränkungen sind viele Menschen in Innenräumen aktiv und schöpferisch geworden. Kochen, Pflanzen, Renovieren – voller Stolz und Zuversicht haben viele gespürt, dass sie im Kleinen etwas ausrichten und bewegen können.

Vor dem Hintergrund des Zukunftsvakuums wird Aktivismus im persönlichen Nahbereich zur gefühlt einzigen Möglichkeit, der wahrgenommenen Aussichtslosigkeit etwas entgegenzusetzen. Ein erlebtes Miteinander und Hilfsbereitschaft machen dabei Mut (51 Prozent), einen Teil der Bevölkerung stimmen spirituelle Bezüge wieder optimistisch für die Zukunft (32 Prozent).

Auch die Sozial-Bezüge wurden neu geordnet und sortiert. An die Stelle der digitalen Kontakt-Maximierung trat die Suche nach echten und tragfähigen Beziehungen: Wer steht mir wirklich nah? Wem kann und will ich vertrauen? Mit wem kann ich etwas bewegen? Vor allem die Flut Katastrophe hat gezeigt, zu welchen Formen der Solidarität ein Gemeinwesen fähig ist, das sich nicht einem abstrakten Versorgungs Apparat überantwortet, sondern handfesten Aufgaben stellt.

Die Fokussierung auf den Nahbereich hat das Verantwortungs- und Machbarkeits-Gefühl gestärkt, im Lokalen etwas bewirken und verändern können. Zukunftsprojekte ergeben sich dann aus den jeweils konkreten Lebens-Sphären – pragmatisch, praktisch, ganz real und als Kontrapunkt zu den als leer wahrgenommenen Versprechungen des Politikbetriebes. Die Einsicht wächst, dass Teilhabe zu einem Mehr an Zufriedenheit und Gemeinschaftsgeist führt.

Prognose: Wir erleben eine Zeiten-Wende und die Studie beschreibt den Geist, die Unsicherheiten, die Regressions- und Progressions-Kräfte dieser Übergangszeit. Offen und zu hoffen bleibt, dass nicht die Tendenzen zu Rückzug und weiterer Parzellierung gestärkt werden, sondern die Kräfte des gesellschaftlichen Zusammen-Wachsens. So kann die gesellschaftliche Brüchigkeit stabilisiert und Trennlinien können durch das Aufgreifen gemeinsamer Herausforderungen überwunden werden – der Einzelne kann durch die Rückkopplung und Wertschätzung der Gemeinschaft über sich hinauswachsen.

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