„Melancovid“ trifft auf Kriegsangst – Deutschland zwischen Resignation und Schockstarre

Melancovid trifft Kriegsangst

Tiefenpsychologische Untersuchung „Wie ticken die Deutschen“ (02/2022)

Während die Politik Entschlossenheit und Tatkraft zeigt, fühlen sich viele Bürger ohnmächtig und blicken wie paralysiert in den Kriegs-Abgrund. Die Krisenpermanenz wächst sich zur albtraumhaften Dauerschleife aus. Dabei haben die Menschen das schwindelige Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füssen entzogen wird. Ihre Kriegs- und Untergangsängste kontrastieren dabei mit ihrem wie gewohnt funktionierenden Alltag und verleihen der Situation so eine Unwirklichkeit: „Ich fühle mich, als wäre ich Teil einer schlechten Serie.“

Dies ist das Ergebnis einer tiefenpsychologischen wie auch quantitativen Untersuchung des Kölner rheingold Instituts (Februar/März/2022), das seit Anfang der Pandemie die Verfassung der Menschen intensiv und kontinuierlich untersucht. Anlässlich des Krieges in der Ukraine wurde die Studie aktuell um dieses Thema erweitert.

Ein wenig Zuversicht spenden die Einigkeit der Weltgemeinschaft, die Handlungsfähigkeit der europäischen und deutschen Politik und der als heldenhaft empfundene Mut der Ukrainer, insbesondere ihres Präsidenten. Trotzdem gleicht die Befindlichkeit der Deutschen einer Schockstarre – „sie fühlen sich paralysiert wie das Kaninchen vor der Schlange“, sagt Stephan Grünewald, Gründer des rheingold Instituts. Mit unterschiedlichen Strategien wird versucht, der Ohnmacht zu begegnen. Dazu gehören zum Beispiel Solidaritätsbekundungen, Hilfsbereitschaft, Ablenkungsmanöver oder ständiges Updaten der Nachrichtenströme.

Die extremen Ohnmachtsgefühle verstärken die Zermürbtheit, die die Menschen nach zwei Jahren Pandemie empfinden. Jenseits der Kriegsangst reagieren die Deutschen zunehmend resigniert, antriebslos und entnervt auf ihre Lebensumstände und haben trotz Lockerungstendenzen den Wunsch verloren, zu ihrem früheren Leben zurückzukehren. In einer Art Enttäuschungs-Prophylaxe dampfen viele ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse ein, üben sich in Genügsamkeit und verharren in einer Abwarte-Haltung.

Mitunter klingen die Befragten so, als befänden sie sich in einem Zustand der Melancholie. Sie fühlen sich häufig verzagt und mutlos, kreisen um sich selbst. Vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine hatten viele das Interesse an der Außenwelt verloren. Statt Optimismus hatte sich in Teilen der Bevölkerung eine Egal-Haltung entwickelt, die jetzt einer angstvollen Bestürzung gewichen ist.

Zudem hatten viele Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft angesichts der latent aggressiven Stimmung im Hinblick auf Dauerthemen wie Masken oder Impfmoral. Viele retteten sich davor in eine schicksalsergebene Gleichgültigkeit, die sich zwischen Übervorsicht oder privater Anarchie manifestierte. Die Impfung hat ihr – den Schutz ergänzendes – Verlebendigungs-Versprechen aus dem Frühjahr 2021 eingebüßt. Sie wird jetzt eher als eine Beruhigungs-Spritze gesehen, die verspricht, dass eine mögliche Infektion wahrscheinlich einen milderen Verlauf haben wird.

„Die Menschen vermissen die frühere Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit, mit denen man dem Leben und seinen Verlockungen oder Herausforderungen begegnete“, sagt Stephan Grünewald. Die eskalierende Krisen-Spirale führe zu Bedrohungsgefühlen, Corona wiederum zu einer dauernden Übervorsicht. Lediglich ein knappes Viertel (22,6 Prozent) der Menschen wollen wieder zu der Lebensfülle und Risikobereitschaft der Vorcorona-Zeit zurückkehren. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung wollen hingegen einige Vorsichtsmaßnahmen beibehalten und 27 Prozent bekunden sogar, dass sie in Zukunft zudem im Umgang mit Menschen zurückhaltender sein werden. „Spontanität wird durch ständige Selbstkontrolle ersetzt, Schuldgefühle sind zum Alltagsbegleiter geworden – die Deutschen leiden an Melancovid“.

Zur Methode: Das rheingold Institut hat in den vergangenen Monaten kontinuierlich die Corona-Befindlichkeit der Deutschen untersucht. Aktuell wurden Anfang Februar in einer tiefenpsychologischen Pilot-Studie 40 Menschen in Gruppendiskussionen und Tiefeninterviews sinnbildlich je zwei Stunden auf die Couch gelegt. Aufbauend auf den qualitativ-psychologischen Explorationen wurde Mitte Februar zu ausgewählten Fragestellungen eine quantitative Befragung mit 1.000 Menschen bevölkerungsrepräsentativ (Alter, Geschlecht, Bundesland) in Deutschland durchgeführt. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurden zusätzlich 12 Menschen qualitativ-tiefenpsychologisch zu ihrer Befindlichkeit befragt.

Die Ergebnisse der Untersuchung im Detail

Ergebnisse der Untersuchung NACH dem Kriegsbeginn in der Ukraine (Untersuchungszeitraum 28.2./1.März 2022)

Der Krieg in der Ukraine: Während die Politik Entschlossenheit und Tatkraft zeigt, fühlen sich viele Bürger ohnmächtig und blicken wie paralysiert in den Kriegs-Abgrund. Die Bürger erleben den russischen Angriff der Ukraine als plötzlichen Einbruch einer bedrohlichen Kriegswirklichkeit, die ein unvorstellbares Eskalationspotential birgt. Mit einer so unmittelbaren Kriegssituation sind die meisten in ihrem Leben noch nicht konfrontiert worden. Die Krisenpermanenz (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Pandemie) die vor allem junge Menschen als eine nicht enden wollende Dauerkrise erleben, hat eine neue Dimension bekommen, die auch die bisherigen Sorgen um Corona weitgehend überdeckt: „Wir geraten von einer Katastrophe in die nächste Schlimmere.“

Die Menschen haben das albtraumhafte Gefühl in einen Abgrund zu blicken, in dem sich auch ein Atomkrieg und der Untergang ihrer Welt befinden kann. Die Situation und vor allem die Person des russischen Präsidenten wird als völlig unberechenbar erlebt. Man traut ihm die Wahl der zerstörerischsten Mittel zu, um seine Ziele zu verwirklichen. Stärker noch als zu Beginn der Corona-Pandemie erleben sich die Menschen in einer ungeheuerlichen Ohnmachtssituation. Sie fühlen sich paralysiert wie das Kaninchen vor der Schlange und wissen nicht, was sie – jenseits dem Befürworten der vollzogenen Sanktionen – noch machen können.

Während die Politik beherzt eine Zeitenwende ausruft, fühlen sich viele Menschen manövrierunfähig und völlig niedergedrückt. Sie haben das schwindelige Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füssen entzogen wird. Ihre Kriegs- und Untergangsängste kontrastieren dabei mit ihrem wie gewohnt funktionierenden Alltag im immer noch intakten deutschen Auenland und verleihen der Situation eine Unwirklichkeit: „Ich fühle mich als wäre ich Teil einer schlechten Serie.“

Während der russische Präsident Putin als wahnsinniger Aggressor erlebt wird, dem sein Volk „scheißegal“ ist, wird Präsident Selenskyj als Held empfunden, der trotz der schlimmen Situation Zuversicht vermittele. Seine Auftritte im T-Shirt lassen ihn als Mann der Tatkraft und des Volkes erscheinen. „Wie ein Kapitän, der zuletzt das Schiff verlässt.“ Er lässt spüren, welche Kraft Extremsituationen entfalten können und wie wichtig es ist, eine Vision zu haben. Auch die deutschen Politiker gewinnen durch ihre Aktivität (Annalena Baerbock), wieder gewonnene Klarheit (Olaf Scholz) und Authentizität an Profil. Während die Politik Entschlossenheit und Konsequenz zeigt, verharren die meisten Bürger noch in einer abwartenden Fassungslosigkeit.

Dennoch lassen sich unterschiedliche Bewältigungsformen bei den Bürgern differenzieren:

  • Permanentes Updaten in der Dauer-Nachrichten-Schleife: man grübelt und verfolgt ständig auf dem Ticker die aktuellen Kriegsereignisse und hofft inständig auf tröstende oder erlösende Entwicklungen.
  • Normalitäts-Beschwörung und Ablenkungs-Manöver: man klammert sich an den vertrauten Alltag, beschwichtigt sich selbst, indem man versucht den Abgrund auf Distanz zu halten („ist ja 3,5 Stunden entfernt). Das gelingt vor allem, wenn es gelingt sich abzulenken: man stürzt sich in Arbeit oder ins Vergnügen, geht shoppen oder in die Natur und versucht so fast verzweifelt auf andere Gedanken zu kommen.
  • SolidaritätsBekundungen: Gespräche und der Austausch mit anderen wird ebenso wie die solidarischen Akte der Gesellschaft oder der internationalen Gemeinschaft als wohltuend erlebt. Gemeinsam will man sich bestärken und hofft, dass die ganze Welt jetzt zusammenrückt.
  • HilfsBereitschaft zeigen: Das Spektrum der Hilfsbereitschaft reicht von Geldspenden über die Bereitschaft Kartons mit benötigten Materialien zu verschicken bis zur Bereitstellung von Wohnraum für Geflüchtete und vermittelt den Menschen zumindest kurzfristig das Gefühl, aus der Ohnmacht zu entkommen.
  • Fluchtgedanken hegen: Einige überlegen, bei einer weiteren Eskalation das Land zu verlassen und in ungefährlichere Regionen zu reisen. Gedanklich oder faktisch packen sie bereits einen Notfallkoffer.

Während einige wenige Bürger die Krise als vitalisierenden Weckruf erleben und planen, ihr Leben umzubauen, hoffen die meisten Bürger auf einen höheren Beistand. China, das russische Volk, der charismatische Präsident Selenskyj oder der Einsatz deutscher Spitzenpolitiker sollen eine erlösende Wende ins Geschehen bringen.

Ergebnisse der Untersuchung VOR dem Kriegsbeginn in der Ukraine (Untersuchungszeitraum Anfang bis Mitte Februar 2022)

1. Resignation und Perspektivlosigkeit forcieren eine abwartende Egal-Haltung

Viele Bürger fühlen sich nach zwei Jahren Corona in einem resignativen Zustand. Die Endlos-Schleife von immer neuen Corona-Varianten, neuen Maßnahmen, Teil-Lockdowns und den immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf eine Rückkehr in eine Normalität, haben ein Gefühl der Auswegs- und Perspektivlosigkeit erzeugt: „Wir haben doch alles gemacht, was man machen kann, aber es hört einfach nicht auf.“

Eine Aufbruchstimmung ist trotz der baldigen Aussicht auf das Ende der Maßnahmen nur in zaghaften Ansätzen zu verzeichnen. Statt Optimismus hat sich in Teilen der Bevölkerung eine Egal-Haltung entwickelt. Die Dauerthemen Maske oder Impfmoral führen zu einer schwelenden Genervtheit. Zudem haben viele Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft angesichts der latent aggressiven Stimmung im Hinblick auf diese Fragen.

Viele retten sich in eine schicksalsergebene Gleichgültigkeit, die sich in Übervorsicht oder privater Anarchie manifestieren kann. Während die einen angesichts der hohen Inzidenzen sich weiterhin weitgehend zurückziehen und Kontakte nach draußen vermeiden, beachten andere die bestehenden Corona-Regeln nicht mehr, feiern wieder ausgelassen Karneval oder toben sich in privaten Grauzonen aus. Viele haben sich angesichts der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung abgewöhnt, große Pläne zu machen: „Man lebt doch nur noch auf Sicht und wenn man sich auf etwas freut, kommt immer die nächste Klatsche.“ In einer Art Enttäuschungs-Prophylaxe dampfen viele ihre Wünsche ein, üben sich in Genügsamkeit und verharren in einer Abwarte-Haltung.

2. Bequemlichkeit, Lust- und Antriebslosigkeit sind Symptome einer Deprivation im Privaten

Die meisten Bürger sind während der Pandemie häuslicher geworden und haben sich buchstäblich in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen. Aber das Gefühl der Entschleunigung und Entspannung, dass die Menschen noch während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 hatten, ist zu einem Gefühl der Trägheit und Bequemlichkeit geworden. 30,5 Prozent der Befragten beobachten eine gewisse Antriebslosigkeit. 29 Prozent haben an einigen Dingen die Lust verloren, die ihnen früher Freude bereitet haben. Und 23,4 Prozent fürchten gar bequem geworden zu sein und das alte Aktivitätslevel nicht mehr zu erreichen: „Jeder lebt ein bisschen in den Tag hinein – mal gucken, was kommt.“ „Ich bin faul geworden die letzte Zeit.“ Mitunter klingen die Beschreibungen der Befragten so, als befänden sie sich in einem Zustand der Melancholie. Sie fühlen sich häufig verzagt, mutlos und erleben, dass sie nur noch um sich selbst kreisen und das Interesse an der Außenwelt verloren haben. Das ganze Leben erscheint abgedämpft und heruntergefahren und soll allenfalls einen „milden Verlauf“ nehmen.

3. Vorsicht und Zurückhaltung werden auch die Zeit nach Corona bestimmen

Auch nach dem Ende der Einschränkungen wollen nur 9,1 Prozent der Bürger „versuchen alles nachzuholen und besonders ausgelassen feiern oder shoppen“. Und lediglich ein knappes Viertel (22,6 Prozent) der Menschen wollen wieder zu der Lebensfülle und Risikobereitschaft der Vorcorona-Zeit zurückkehren. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung wollen hingegen einige Vorsichtsmaßnahmen beibehalten und 27 Prozent bekunden sogar, dass sie in Zukunft im Umgang mit Menschen zurückhaltender sein werden. Der Rückzug in den kleinen Lebenskreis des Privaten wird auch langfristig den Weltradius der Menschen verkleinern und zu einer neuen Selbstbezüglichkeit führen. Viele beschreiben, dass sie mit der Lebensfülle fremdeln und sich die Exaltiertheit früherer Zeiten nicht mehr vorstellen können. „Wenn ich Bilder oder Filme von Konzerten oder tanzenden Menschen sehe, habe ich direkt ein Störgefühl, könnte ich mir für mich so nicht mehr vorstellen.“ „Ich finde es schon befremdlich, wenn ich viele Menschen sehe.“

4. Unbeschwerte Lebensfreude wird oft durch Selbstkontrolle, Schuldgefühle und kleine Biedermeier-Fluchten ersetzt

Vermisst werden vor allem die frühere Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit mit dem man dem Leben und seinen Verlockungen oder Herausforderungen begegnete. Die Lust auf Inspiration ist verloren gegangen: „Mir wurden die Träume geraubt.“ Spontanität wird durch ständige Selbstkontrolle ersetzt oder ausgebremst. Bevor man etwas unternimmt, überlegt man dreimal, ob sich das lohnt und ob es das Risiko einer Infektion wert ist. Oft entscheidet man sich dann, doch lieber zuhause zu bleiben. Das schlechte Gewissen, weil man zu wenig macht oder Schuldgefühle, weil man sich zu wenig einschränkt, sind zu Alltagsbegleitern geworden.

Viele Befragte hoffen zwar auf den Sommer und geben sich ihren Urlaubs-Träumereien hin. Der erfolgreiche Abschluss einer Reiserücktritts-Versicherung freut dabei mitunter mehr als die Urlaubsaussicht. Der Abwarte-Modus wird gefüllt durch die kleinen Biedermeier-Fluchten und Genussmomente, die man in den letzten beiden Jahren kultiviert hat: Radfahren, Wandern, Gartenarbeit, Dekorieren, Kochen, Backen, Spielen. 26,2 Prozent der Befragten bekunden, dass sie diese liebgewonnen Tätigkeiten auch weiter beibehalten wollen. „Ich habe gelernt, mich auf mich zu konzentrieren und bin geduldiger und nachsichtiger geworden.“

5. Die Jahreszeiten bestimmen stärker den Lebens-Rhythmus

Die mit dem Herbst und Winter einhergehenden Einschränkungen und partiellen Lockdown-Phasen haben wieder zu einer stärkeren Rhythmisierung des Lebens in der Logik der Jahreszeiten geführt. Die Rückzugstendenzen der meisten Bürger nehmen „in der dunklen Jahreszeit“ merklich zu und viele fallen sinnbildlich in einen Winterschlaf-Modus. Im Frühjahr und in der Osterzeit feiern die Bürger ihre Wiederauferstehung und strömen erneut stärker ins öffentliche Leben. Die Sehnsucht nach der früheren Unbeschwertheit lebt in den Sommermonaten partiell wieder auf – jedoch mit einer sorglosen Selbstvergessenheit, die die bestehenden Probleme und Gefahren verdrängt und dann im Herbst angesichts der zurückkehrenden Schwierigkeiten wieder in einen enttäuscht-resignativen Zustand verfällt.

6. Die Impfung hat einen Bedeutungswandel durchlaufen: Von der erlösenden Verlebendigungs-Spritze zur rituellen Beruhigungs-Spritze

Auch die Hoffnung aus dem Frühjahr 2021, dass durch die Impfung die Pandemie überwunden werden kann und die alte Lebensfreude zurückkehrt, ist erodiert. Durch das erforderliche Nachimpfen und durch die Kenntnis, dass auch Geboosterte an Corona erkranken und das Virus weitergeben können, hat das Schutzversprechen und den Solidaritätsaspekt der Impfung geschwächt. „Wenn man ständig nachimpfen muss, kann der Impfstoff nicht so gut sein.“ Zudem hat die Impfung einen Bedeutungswandel vollzogen. Zu Beginn der Impfkampagne wurde die Impfung angesichts der schon wieder befreit feiernden Menschen in Israel als eine Verlebendigungs-Spritze gesehen, die nicht nur schützt, sondern auch einen Freifahrtschein in ein aktiveres gesellschaftliches Leben verheißt.

Die Impfung wird jetzt eher als eine Beruhigungs-Spritze gesehen, die verspricht, dass eine mögliche Infektion wahrscheinlich einen milderen Verlauf nehmen wird. Die beruhigende Wirkung wird dann in bestimmten Abständen durch rituelle Wiederholungen bzw. Auffrischungen verstetigt. Gleichzeitig wirken die Ungeimpften durch die mediale Berichterstattung von deren Protest-Wanderungen, Demonstrationen und wüsten Schimpftiraden als die Aktiveren und Vitaleren. „Während wir brav zuhause bleiben, rennen die Ungeimpften nachtaktiv und lautstark durch die Gegend.“

7. Zeit des Erwachens – die Überwindung der Melancholie

Der melancholische Zustand resignativ-zurückgezogener Selbstbezüglichkeit hat sich in Teilen der Bevölkerung verfestigt. Verlebendigung und Lebensfreude werden sich nach dem Ende der Pandemie nicht automatisch wieder einstellen. Politik, Medien und Kunst werden in der Zeit des Erwachens die Rolle eines Defibrillators übernehmen. Sie können einen Beitrag leisten, die Gesellschaft wiederzubeleben, in dem sie Impulse setzen, Lebensfreude wecken und ein Aufbruchsklima schaffen: der Lockruf der Wirklichkeit ersetzt dann den Lockdown-Apell.
Zur Zeit des Erwachens gehört aber auch das Erwachsen-Werden der Bürger. Wenn das Alltagsleben nicht mehr durch Einschränkungen und verordnete Vorsichtsmaßnahmen reglementiert wird, sind die Bürger wieder gefordert selbst Verantwortung zu übernehmen und zu entscheiden, wie sie leben wollen, was ihnen wichtig ist und welche Risiken sie dabei eingehen wollen. Diese Freiheit ist jedoch anstrengender als die kindliche Haltung, die entweder auf unkritischen Trotz oder auf brave Anpassung setzt.

Die Neujustierung des Lebens nach der Pandemie fällt vielen deshalb schwer, weil sie zwischen Baum und Borke hängen: Zurück ins alte Hamster- und Konsumrad wollen sie nicht, aber das neue Leben ist noch unkonturiert. Eine neue Vorstellung wie man in Zukunft leben und arbeiten möchte, entsteht nicht auf Knopfdruck und kann auch nicht verordnet werden, sondern braucht einen Prozess des Trauerns: das schmerzliche Abschiednehmen von der alten Lebenswirklichkeit eröffnet erst eine neue Perspektive. Diese neue Perspektive erfordert jedoch den Mut und die Bereitschaft, die Komfortzone des vertrauten Schneckenhauses zu verlassen und sich zu öffnen für die Welt mit ihren Zufällen, Verlockungen, Beunruhigungen sowie Herausforderungen.

Neue Offenheit und Spontanität statt selbstbezüglicher Abschottung braucht es auch in den sozialen Kontexten. Viele Menschen haben in der Pandemie verlernt, wie man aufeinander zugeht, wie man jemanden begrüßt oder wie man kultiviert streitet. Die Bereitschaft einander wieder zuzuhören und sich zu verstehen, braucht nicht nur Toleranz gegenüber Andersdenkenden, sondern auch öffentliche Räume – Bars, Cafés, Restaurants, Arbeitsplätze, Stadien – in denen sich die Bürger wieder zwanglos begegnen und austauschen können.

rheingold führt pro Jahr ca. 5.000 zweistündige Explorationen zu allen Bereichen des Alltagslebens durch. Wir, rund 45 feste und 55 freie Mitarbeiter, erforschen Märkte, Medien und Kultur. Daraus ist ein einzigartiger Erfahrungsschatz zu den unterschiedlichsten Themen geworden. Von ganz intimen menschlichen Phänomenen bis hin zur Politik und Alltagskultur. rheingold verfügt damit über das umfassendste, stets aktuelle, qualitative Wissen über Verbraucher weltweit.

Ähnliche Beiträge